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Pro und Kontra

Kommt die Verkehrswende?

Ist die Verkehrswende eine unabwendbare Gewissheit oder noch ferne Zukunftsmusik? Unsere Autoren sind sich da nicht so einig.

Pro

Sie ist längst da

Wenn man sich die alltäglichen Verhältnisse auf Deutschlands Straßen und die Bundespolitik anschaut, dann könnte man denken, dass die Verhältnisse so in Zement und Asphalt gegossen sind, dass unsere Generation eine echte Verkehrs- oder Mobilitätswende wohl nicht mehr erleben wird. Trotz aller Debatten um Klimaschutz und Luftverschmutzung und angeblichem Carsharing-Boom und Automüdigkeit junger Menschen stieg beispielsweise die Zahl der Pkw in Deutschland in den letzten Jahren immer weiter: von 2010 bis 2019 allein um 12 Prozent von durchschnittlich 509 auf inzwischen 569 Pkw pro 1.000 Einwohner.
Trotz dieser Entwicklung gibt es unter dieser Oberfläche nach Jahrzehnten der Autoförderung auf allen Ebenen inzwischen nicht nur Keime der Hoffnung auf Veränderungen, es zeigen sich zunehmend auch Brüche bis hin zu sich andeutenden tektonischen Verschiebungen. Nach einer Umfrage der KfW Bankengruppe von 2017 sehen zum Beispiel 81 Prozent der Bevölkerung akuten Handlungsbedarf für eine Verkehrswende. Konkret wünschen sich etwa 80 Prozent mehr Radwege und Fahrradstreifen sowie eine Verbesserung der Sicherheit auf Radwegen. Auch Umfragen zu den jüngsten Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass die Themen Umwelt und Klima bei den Bürgern landesweit ganz vorne auf der Prioritätenliste stehen. In den Städten hatte das Thema Verkehr und Verkehrswende den höchsten Stellenwert. Auch die Kommunen selbst wollen parteiübergreifend eine Verkehrswende, wie es vom Deutschen Städtetag heißt, der eine Neuorientierung empfiehlt, um Innenstädte vor der Verödung zu bewahren. »Stadtzentren müssen wieder lebendige Orte werden, autoarm oder autofrei«, so Städtetagspräsident Burkhard Jung im Oktober in einem Spiegel-Interview. Neben den Corona-Begleiterscheinungen, die den Menschen gezeigt haben, was alles geht, wenn man es wirklich will, rücken auch Maßnahmen zur Abwendung der Klimakrise mit Macht in den Vordergrund. Handlungsbedarf gibt es vor allem im Verkehrssektor, denn im Gegensatz zu anderen Bereichen wurde der CO2-Verbrauch hier nicht, wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart, deutlich gesenkt, er ist sogar gestiegen. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen die Emissionen bis zum Jahr 2030 um über 40 Prozent gesenkt werden, was wohl nur durch eine Verkehrsvermeidung, -verlagerung und -optimierung gelingen kann, wie Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung feststellt. Damit eine Wende möglich wird, arbeiten Experten und Länderkommissionen hinter den Kulissen aktuell intensiv an einer kompletten Neuordnung der grundlegenden Gesetze. Dabei geht es um nicht weniger als um den Bruch mit der seit Jahrzehnten festgeschriebenen Bevorzugung des Autoverkehrs auf allen Ebenen. Vieles deutet darauf hin, dass die Verkehrswende unterschwellig längst viel präsenter ist, als wir gemeinhin denken oder manche lautstark glauben machen wollen. Nicht zu unterschätzen ist zudem sicher auch die Sogwirkung erfolgreicher Beispiele und ein gewisser Neidfaktor auf andere, lebenswertere Städte, Viertel und Straßen. Das zeigt sich aktuell in Berlin, wo die Nachfrage nach verkehrsberuhigten oder autofreien Straßen nach Aussage von Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities nach den ersten guten Beispielen sprunghaft in die Höhe geschossen ist. Auch andere Beispiele in europäischen Städten, wie die neue Fahrrad- und Tempo-30-Metropole Paris, der autofreie Jungfernsteg in Hamburg und viele weitere Änderungen werden nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen. Lebenswertere Städte, gesündere und intelligentere Mobilität sind machbar – mit mehr Fahrrädern und E-Bikes und deutlich weniger Autos. Die Produkte und Technologien sind alle da. Jetzt müssen nur alle aufs Tempo drücken, auch die Fahrradbranche.

Reiner Kolberg ist Chefredakteur des veloplan-Magazins

Kontra

Sie ist noch weit weg

Es ist schon wahr, die Radverkehrsförderer und -forderer haben die besseren Argumente. Dass große Städte auch lebenswert gestaltet werden und dabei Fahrräder eine prominente Rolle spielen können und müssen, ist eine erstaunlich junge Idee, die es unbedingt wert wäre, umgesetzt zu werden. Seltsamerweise sind im Leben die besseren Argumente nicht immer diejenigen, die sich dann auch durchsetzen. Entscheidungen schaffen Realitäten, und diese sind hierzulande noch sehr weit weg von dem, was als eine attraktive Radinfrastruktur gelten könnte. Dieser Zustand wird, das ist vermutlich kein Pessimismus, noch viele lange Jahre und Jahrzehnte so bleiben.
Das Problem mit der Verkehrswende ist ein doppeltes. Es gilt nicht nur, neue Konzepte pro Fahrrad zu entwerfen und umzusetzen. Es müssen gleichzeitig bestehende, laufende Prozesse wieder eingefangen und angehalten werden und verfestigte Strukturen gelockert werden, um tatsächlich wenden zu können. Das kostet sehr viel Elan und bringt erst einmal keine sichtbaren Ergebnisse.
Dazwischen sollte man sich nicht von kleinen Geschenken an die Radfahrer blenden lassen. Die echte Nagelprobe steht noch aus. Dann nämlich, wenn es an die Straßensubstanz geht, an eine echte Umverteilung von Platz, wird der Konflikt erst wirklich aufbrechen. Wenn in Städten flächendeckende Radwegenetze entstehen sollen und nicht nur Stückwerk an Stellen, die keinem wehtun, wenn Parkraum verteuert oder gar abgeschafft wird, spätestens dann wird die bisher so privilegierte Automobilwelt ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, damit die Verkehrswende nur ein kleiner Schlenker bleibt. Sie wäre völlig verrückt, wenn sie kampflos das Parkfeld räumen würde.
Die politischen Entscheider, so will es scheinen, haben sich derzeit recht bequem eingerichtet in einer Situation, in der sie ganz klar pro Verkehrswende Stellung beziehen können, aber dann nicht entsprechend handeln müssen.
Aber gibt es denn nicht schon Erfolge zu vermelden? Sind die Pop-up-Radwege nicht Beleg, dass es in Riesenschritten vorwärtsgeht? Hier lohnt ein genauerer, kritischer Blick. In Stuttgart gibt es jetzt umfangreiche Studien, kostspielige Evaluationen und Untersuchungen rund um den dort entstandenen, aufgepoppten Radweg. Die Aufmerksamkeit ist tatsächlich enorm. Nur: Die haben gerade mal einen einzigen Radwegekilometer mehr als vorher und benehmen sich, als sei eine neue Spezies entdeckt worden, die man erst mal gründlich unter die Lupe nehmen müsse. Das hat weniger mit Gewissenhaftigkeit zu tun als mit Quark breittreten. In Berlin scheint es besser zu laufen. Dort sind schließlich in einer einzigen Pandemiephase 25 km provisorische Radwege entstanden, weitere sind geplant. Selbst wenn es in diesem als rasant wahrgenommenen Tempo weiterginge, würden die meisten von uns je nach Rechenweise nicht mehr zu Lebzeiten in den Genuss einer flächendeckend funktionierenden Fahrradinfrastruktur in Berlin kommen, und so wie es aussieht, auch in keiner anderen Großstadt in Deutschland. Das ist nicht gut genug. Solche Dinge sind nicht nur Zaghaftigkeit, es sind auch nicht Unorganisiertheit, fehlende Kapazität und nötiger Vorlauf, es sind zu einem beachtlichen Teil auch Hinhaltetaktik und schlicht Unwille. Es kommt einem der alte Herrenwitz in den Sinn: »Wenn ich sage, dass ich es mache, dann mache ich es auch. Dann musst du mich nicht jedes halbe Jahr daran erinnern.«
Wenn diese vielfach gewünschte Verkehrswende dann tatsächlich mal kommen sollte, gilt es vorher noch sehr viel (Überzeugungs-) Arbeit zu leisten. Das Bisherige kann höchstens als Auftakt ausreichen. Es bleibt erstaunlich, dass die Idee lebenswerter Städte, in der man seine Kinder sorgenfrei auf die Straße schicken kann, noch so fern ist.

Daniel Hrkac ist Chefredakteur des velobiz.de-Magazins

14. November 2020 von Reiner Kolberg und Daniel Hrkac
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