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Corona beschleunigt die Umsetzung von Plänen hin zu Lebensqualität und »Nahmobilität« – wie hier in Paris.
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Verkehr - Städte am Scheideweg

Lackmustest für die Verkehrswende

Kommt jetzt endlich die Verkehrswende oder wird sie auf unbestimmte Zeit vertagt? Diese Frage stellen sich derzeit viele. Reiner Kolberg wirft einen Blick auf Entwicklungen in Deutschland und Europa und ist trotz aller Verzagtheit in Deutschland optimistisch für die Zukunft.

Im November 2019 noch optimistisch: Dr. Ute Symanski bei der Übergabe von 207.000 Unterschriften der Volksinitiative Aufbruch Fahrrad u. a. für 25 % Radanteil in NRW mit Landesverkehrsminister Hendrik Wüst. Berlin macht Tempo und setzt ohnehin geplante Radwege schnell als Pop-up-Protected-Bike-Lane um.

Viele kluge Köpfe reden aktuell gerne von einem »Window of Opportunity«, das sich mit der Corona-Krise gerade öffnet. Oft ist auch von Brüchen und Missverhältnissen die Rede, die durch die Pandemie sichtbar werden, und einer Beschleunigung, die bestehende Prozesse erfahren. Und tatsächlich: Egal wohin man schaut, man kann diese Phänomene weltweit beobachten. Mit Blick auf die Verkehrswende fallen europäische Metropolen und Städte wie London, Paris, Wien, Brüssel, Mailand und Berlin ins Auge. Für jeden klar zu sehen ist auch der sprunghafte Anstieg an Radfahrern über alle sozialen und Altersgruppen hinweg in den Städten und auf dem Land. Gute Voraussetzungen also für ein Umdenken?

Mobilitätswende als Krisentool

Weltweit rechnen Wissenschaftler damit, dass uns das Corona-Virus noch lange zu schaffen macht. Zudem wird vor weiteren Pandemien gewarnt. So hieß es bereits im September 2019 im Bericht einer von WHO und Weltbank gegründeten Expertengruppe: »Für die Welt besteht das akute Risiko verheerender Epidemien oder Pandemien, die nicht nur zum Verlust von Leben führen, sondern Volkswirtschaften abwürgen und soziales Chaos verursachen.« Infektionsschutz und individuelle und gesellschaftliche Gesundheitsvorsorge rücken damit in ein neues Licht und führen Experten zufolge wohl zu kaum absehbaren Umbrüchen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Aktuell wird vielerorts intensiv an neuen Konzepten gearbeitet, um gesunde, effiziente, umweltfreundliche, sichere und kostengünstige Mobilität abseits von öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen. Denn voll besetzte Züge, U-Bahnen und Busse sind wohl für längere Zeit weder wünschenswert noch angesichts der gefühlten Unsicherheit und Maskenpflicht für die Mehrheit eine echte Option. Vielerorts geht es auch um deutlich mehr als »nur eine Verkehrswende«. In den Mittelpunkt gestellt wird eine Mobilitätswende, die mit dem Verständnis verknüpft wird, dass es mit und nach Corona gerade in den Städten um mehr Platz geht für aktive und gesunde Bewegung: zu Fuß, per Fahrrad und E-Bike, als Jogger oder mit Inlineskatern oder Tretrollern.

Abgesehen von Berlin muss man leider sagen, dass die allermeisten Städte in Deutschland praktisch nichts machen. Das ist total deprimierend.Dr. Ute Symanski

Dringend benötigt: lebenswerte Städte

Gerade in größeren Städten geht es längst nicht mehr nur darum, Verkehr möglichst effizient zu organisieren, sondern Städte und Stadtviertel, Fußwege, Straßen und Plätze wieder lebenswerter und auch in Zeiten von Corona attraktiver zu gestalten. Neben gesundheitlichen Prämissen geht es dabei ebenso um wirtschaftliche Ziele. Aktuell stehen viele lokale Einzelhändler mit dem Rücken zur Wand. Auch eine Großzahl der Gastronomen fürchtet um ihre Existenz. Verbände wie der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga sagen hier massenhaft Insolvenzen voraus, wenn nicht schnell und umfassend reagiert und zum Beispiel schnell mehr Platz für die Außengas­tronomie geschaffen wird. Platz wäre auch da. Statistiken zeigen, dass Autos über 23 Stunden am Tag stehen und sich ein Großteil der Wege in der Stadt leicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad oder E-Bike zurücklegen ließe.

Europaweiter Aufbruch

Weltweit und insbesondere in Europa haben Städte in der Corona-Krise deshalb umfangreiche Sofortmaßnahmen beschlossen. Metropolen wie London und Paris treiben bereits vorhandene Pläne zum Umbau nun mit Hochdruck voran. Man könne nicht zulassen, dass Fahrten vom öffentlichen Verkehr auf das Auto verlagert würden, betont der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, »weil unsere Straßen sofort blockiert wären und die toxische Luftverschmutzung anschwellen würde«. Es gelte, Millionen von Fahrten pro Tag auf andere Verkehrsmittel zu verlagern. Deshalb sollen Straßen rasch umgestaltet werden, um eine Verzehnfachung des Radverkehrs und eine Verfünffachung des Fußgängerverkehrs zu ermöglichen. Paris will 300 Millionen Euro schneller in das – ohnehin geplante – Radwegenetz der Île-de-France investieren mit dem Ziel, die Fahrradnutzung zu verfünffachen. Helfen sollen zudem neue (temporäre) Radwege, das Fahrradverleihsystem Véligo und Kaufanreize für Pedelecs. Bürgermeisterin Anne Hidalgo sieht sich in ihren Plänen für ein lebenswerteres Paris, die von den Einwohnern mit großer Mehrheit mitgetragen werden, bestätigt. Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen ist nach ihren Worten »völlig undenkbar«. Wien hat als eine der ersten Metropolen während des Lockdowns temporäre Begegnungszonen geschaffen und Brüssel ist dem Beispiel gefolgt und hat das gesamte Zentrum zur Begegnungszone mit Tempo 20 deklariert – ab 2021 soll im gesamten Stadtgebiet Tempo 30 gelten. Mit Tempo 30 und Pop-up-Radwegen gehen auch italienische Städte wie Mailand die Krise an. Um schnelle Änderungen zu ermöglichen, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Zudem gibt es 500 Euro Kaufprämie vom Staat für Fahrräder. Mehr Platz für Radfahrer, Fußgänger, aber auch für Geschäfte und Gastronomen schaffen Kommunen in den Niederlanden durch die schnelle Umwidmung von Parkplätzen und aktive Hilfe bei der Gestaltung der neuen multifunktionalen Parklets.

Berlin einsamer Leuchtturm in Deutschland

Wo man hinschaut, entstehen kreative Konzepte und Aufbruchstimmung. Das gilt auch für Berlin, wo der Senat mit vorhandenen und externen Kapazitäten und unter Einbeziehung der Verbände und der Bevölkerung vor Ort beispielhaft vorangeht, Pläne schneller umsetzt und mit Pop-up-Protected-Bike-Lanes schnelle Lösungen schafft. Laut Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg haben Pop-up-Lösungen für Planer viele Vorteile. Der Praxistest mache Schwächen sichtbar – dann könne schnell und kostengünstig nachjustiert werden, was bei neu gebauten Radwegen nicht möglich sei. Die Radfahrer in Berlin erhielten durch den Probelauf eine deutlich alltagstauglichere Radinfrastruktur. Vom Leuchtturm Berlin abgesehen tun sich Politik und Verwaltung deutschlandweit allerdings weiter schwer. Darauf wies im Mai unter anderem Greenpeace in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden mit Aktionen in 30 deutschen Städten für neue Pop-up-Radwege hin. Für die Kölner Organisationssoziologin, -beraterin und politische Aktivistin Dr. Ute Symanski, die die NRW-Volksinitiative »Aufbruch Fahrrad« mit über 200.000 Unterschriften mitinitiierte und prägte und den Kongress Radkomm veranstaltet, zeigt das Beispiel Berlin, dass »alles sehr schnell in die richtige Richtung gehen kann, wenn die richtigen Köpfe in Schlüsselpositionen sind.« Ansonsten sieht sie hierzulande aber weder echte Veränderungen noch überhaupt den Willen dazu. »Abgesehen von Berlin muss man leider sagen, dass die allermeisten Städte in Deutschland praktisch nichts machen. Das ist total deprimierend.«

Mehrzahl deutscher Städte verweigert sich

Im Gespräch zieht Ute Symanski, die seit Jahren bestens mit Fahrradaktivistinnen und -aktivisten aus allen Bereichen vernetzt ist, angesichts der momentanen Umbrüche und damit verbundenen Chancen, ein bitteres Fazit: »Wir sind an einem Punkt der Wahrheit. Aktuell zeigt sich, welche Städte und Kommunen wirklich die Verkehrswende wollen und welche nicht. Leider sehen wir, dass die überwiegende Mehrzahl der Städte einfach keine Lust auf eine Verkehrswende hat. Diejenigen, die nicht wollten, haben die Chance einfach nicht ergriffen.« Dabei sei es im öffentlichen Raum, wie in ihrer Heimatstadt Köln, praktisch unmöglich, Abstand zu halten. »Viele Menschen aus Risikogruppen trauen sich aktuell kaum noch nach draußen. Die Gehwege sind alle viel zu eng und man kann auch nicht auf die Straße ausweichen. Selbst in verkehrsberuhigten Wohnstraßen wird man als Fußgänger*in regelmäßig weggehupt. Es ist unfassbar unverantwortlich.« Alle, mit denen sie rede, also auch die Autofahrenden, sagten, natürlich bräuchte man mehr Platz für die Menschen. »Die Menschen wollen ein besseres Lebensumfeld, einen anderen Umgang mit dem Thema und andere Prioritäten«, so Ute Symanski. Aber die Politik ziehe einfach nicht mit. »Ich kann einfach nicht verstehen, dass den vielen fahrenden und parkenden Autos mehr Rechte eingeräumt werden als den Menschen. Die Fantasielosigkeit und die unbedingte Bevorzugung der heiligen Kuh Auto tut richtig weh.« Mit Blick auf das Verkehrsministerium habe man den Eindruck, dass die Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen der Politik und der Automobilindustrie noch viel größer seien, als man eigentlich immer dachte.

Brüchiges Commitment für Radverkehr

Der Bundesverkehrsminister will »auch Fahrradminister« sein, NRW schreibt an einem Fahrradgesetz, der Deutsche Städtetag setzt sich für die Verkehrswende ein und alle wollen deutlich mehr und deutlich sichereren Radverkehr. So weit die mantraartig wiederholten Statements. Wenn sich aber, wie jetzt, ein Fenster öffnet für eine echte Mobilitätswende und Pop-up-Lösungen, dann werden aktuell Argumente ins Feld geführt, die gerade die schnelle Veränderungen praktisch unmöglich machen: Da geht es zum Beispiel um eine sorgfältige Planung und Evaluation als zwingende Voraussetzung für neue Radwege, obwohl man bereits zuvor lange Planungszeiträume und fehlendes Personal als Ursache für den Reformstau ausgemacht hat. Die Ablehnung temporärer Einrichtungen trifft bei Ute Symanski auf völliges Unverständnis. Nach ihren Erfahrungen koste allein die Planung eines herkömmlichen Kilometers Radinfrastruktur ohne Einrichtung 40.000 Euro. Dagegen käme die Planung und Einrichtung eines Kilometers Pop-up auf nur 10.000 Euro. »Es gibt also überhaupt keine Gründe das jetzt nicht zu tun, es gibt auch überhaupt keine rechtlichen Hürden. Es gibt keine Entschuldigung, nichts zu tun.«

Wollen die Verantwortlichen nicht?

Für Ute Symanski bleibt nur ein einziger Grund für die Untätigkeit: »Die Verkehrsplanung und die Politik, die an der Macht ist, wollen nichts ändern.« Diese Erkenntnis sei für sie sehr bitter. »Was meine Enttäuschung aktuell noch größer macht: Ich bin jetzt seit zehn Jahren aktiv. Immer mit Wertschätzung, immer mit dem Anspruch, im Gespräch zu bleiben.« Im Moment fühle sie sich aber, wie alle, die mit dem Thema Verkehrswende und Radverkehr befasst seien »total verarscht, um es mal drastisch auszudrücken«. Die Verantwortlichen sollten aufhören so zu tun als ob, und sagen, »also wissen Sie liebe Radkomm, ADFC, VCD, Agora, Critical Mass, Kidical Mass usw., kapiert es doch endlich, wir wollen nichts ändern!« Wenn sie ihre Stadt Köln sehe, dann schäme sie sich fast ein bisschen, als Fahrradaktivistin hier zu leben, weil einfach nichts passiere und sich Verwaltung und Politik »total sperren« würden. Zugespitzt könne man aktuell sagen, »die Menschen stürmen die Fahrradläden, obwohl die Politik und die Stadtplanung alles tun, um zu verhindern, dass die Menschen Fahrrad fahren.«

Die Städte wollen die Verkehrswende.Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen.Helmut DedyHauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages NRW im Interview mit dem Fachmagazin VELOPLAN im Februar 2020

Mehr Resilienz als zentrales Gebot

Experten sehen in der Zähigkeit, mit der man in Deutschland weiter am Auto hängt, vor allem ein kulturelles Problem. Denn gerade hier ist das Auto ohne Frage sehr tief verwurzelt. Dass sich gerade allerdings etwas ändert, zeigt nicht nur die Bundespolitik mit ihrer Entscheidung gegen eine Autoprämie, sondern auch die jüngere Generation. Hier ist das Auto für die Allermeisten längst kein Statussymbol mehr, sondern nur ein Mittel von vielen zur Fortbewegung. Insgesamt betrachtet erscheint der Wunsch zur Rückkehr zum Status quo vor Corona zudem zwar nachvollziehbar, angesichts der bestehenden und weiterwachsenden Probleme aber auch immer weniger wünschenswert. Mehr Resilienz, also mehr Widerstandsfähigkeit gegenüber vielfältigen neuen Herausforderungen und Krisen, sehen Experten als zentrales Gebot für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Die alternde Gesellschaft, unser Lebensstil inklusive Bewegungsmangel, Luftverschmutzung und den vielfältigen Wechselwirkungen – auch im Hinblick auf schwere Erkrankungen – sowie die mittlerweile deutlich spürbare Klimaerhitzung stellen uns vor enorme Herausforderungen.

Wie geht es weiter in Deutschland?

Überall haben Menschen plötzlich die kollektive Erfahrung gemacht, wie die Städte und die Welt auch sein können: leise, mit sauberer Luft, stressfrei und mit viel Platz – gerade auch für Radfahrer. Viele Menschen, quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, haben während des Lockdowns das Fahrrad wieder- oder neu entdeckt. Ähnlich wie die Ölkrise Mitte der 1970er-Jahre mit autofreien Sonntagen wird das wohl im Bewusstsein bleiben und wirken. Viele Radfahrer, auch unsichere, werden sich wohl auch weiterhin auf den Sattel schwingen, solange das Virus da ist. Für sie gilt es zu sorgen und sie werden wohl auch Druck machen in den Städten für Veränderungen. »Der Wille bei den Menschen, eine andere Mobilität zu leben, ist extrem groß und das hört auch nicht auf«, betont dazu Ute Symanski. Vielleicht noch wichtiger: Künftig fehlt der Politik wohl mit »Das geht nicht« ein zentrales Argument gerade gegenüber der Fridays-for-Future-Bewegung. Denn die Corona-Krise hat klar gezeigt, was alles geht und was die Bevölkerung alles mitträgt, wenn man es ihr richtig erklärt. Es gibt also trotz der derzeit sichtbaren Vertagung der Probleme weiter Hoffnung, dass sich auch in Deutschland noch Wesentliches in Sachen Mobilitätswende tut. Aber man könnte ja auch anders fragen: Was wäre eine sinnvolle Alternative? Weitermachen wie bisher? Das haben die Städte und Kommunen laut Aussage des Deutschen Städtetags aus guten Gründen ebenfalls ausgeschlossen. Es sieht so aus, als ob die nächsten Kommunalwahlen zu einer Richtungsentscheidung werden könnten, und in NRW stehen sie bereits im September an.

6. Juli 2020 von Reiner Kolberg
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