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Handarbeit wird bei Patria groß geschrieben.
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Portrait - Patria

Maßgeschneiderte Transportlösungen

Das Transportrad ist unter uns. Auch Firmen, von denen man es nicht erwartet hätte, beschäftigen sich damit. Im Falle von Patria sogar sehr intensiv, wie ein Blick hinter die Kulissen des Traditionsunternehmens zeigt.

Michael Manck ist 31 Jahre alt und Maschinenbauingenieur. Er fährt Mountainbike oder Reiserad, wann immer er Zeit hat. Im Alltag ist das Fahrrad seine Mobilitätsgarantie. Wenn sich so jemand mit der Entwicklung eines Fahrrads beschäftigt, dann kommen die Eckpunkte aus der Praxis. Und genau das hat Manck ab 2014 gemacht: Zu Patria brachte ihn seine praktische Abschlussprüfung, die Konstruktion eines Lastenrads für die ganze Familie – sowohl was das Fahren als auch den Transport angeht. Auf der Spezialradmesse 2014 stellte er der Öffentlichkeit einen Prototyp vor. Zu sehen war nicht nur ein Frontlader, sondern etwas Einzigartiges: ein faltbares Cargobike für schwere Lasten.
Wieso beschäftigt sich eine Traditionsfirma wie Patria mit Lastenrädern? Jochen Kleinebenne ist der Chef des mittelständischen Unternehmens mit etwa 20 Angestellten: »Das Transportrad lag doch geradezu in der Luft. Außerdem hat auch dieses Rad Tradition«, weiß der Wirtschaftsingenieur. Sicher: Vor etwa hundert Jahren hatte es bereits eine Hoch-Zeit des Lastenrads gegeben, aus der sich allerdings nur Gefährte einzelner Berufsgruppen wie das Post- und das Bäckerfahrrad über die Zeit retten konnten. Seit der Jahrhundertwende allerdings treten sie vermehrt wieder auf und wurden zu einem richtigen Trend. Und in Bielefeld hat Patria alle Möglichkeiten selbst in der Hand. Vom ersten Entwurf bis zum fahrbaren Prototypen kann man hier alles selbst in Stahl realisieren – ein gar nicht zu überschätzender Vorteil von »Made in Germany«.

Fast jeder zweite Auftrag ist individuell

Stahlbau in den eigenen Hallen ist eines der Kennzeichen, die Patria ausmachen. Ein anderes: der Fokus auf Ergonomie. Denn hier wird viel auf Maß gebaut. Die meisten der bestellten Räder verlassen das Unternehmen mit zumindest der speziell angepassten Oberrohrlänge – »aber im Grunde können wir alles machen«, so Kleinebenne. Etwa die Hälfte der verkauften Räder sind Maßanfertigungen mit individuellen Geometriemaßen. Das geht bis ins kleinste Detail, wie der Unternehmer erklärt. »Schließlich können selbst Maße wie das Verhältnis von Oberschenkellänge zur Beinlänge sehr unterschiedlich ausfallen. Und dem können wir – als Beispiel – mit einem angepassten Sitzrohrwinkel gerecht werden. Wir werden in Sachen Maßanfertigung immer feiner und arbeiten immer detaillierter. Die Kunden fordern uns, und das ist gut!« Dabei will man nicht als Luxusgüter-Hersteller auftreten: »Wir wollen einen Bedarf abdecken, unsere Räder erfüllen einfach ihre Funktion sehr gut.« Damit der Patria-Händler den Fokus auf Ergonomie auch wirklich in vollem Umfang beim Kunden anbringen kann, gibt es den Velochecker.
Ein Messfahrrad, das beim Händler steht und an dem alle einstellbaren Maße und Längen ablesbar sind. Diese »Ergonomie-Maschine« wird ständig weiterentwickelt. Neben den Rahmenhauptmaßen lassen sich unter anderem so triftige Maße wie Kurbellänge, Vorbaulänge und Satteloffset einstellen. Selbst der Sitzrohrwinkel ist nicht fix. Jeder einzelne ergonomisch relevante Parameter kann eingestellt werden. Neben Kompletträdern ordern die 120 Stützpunkthändler von Patria auch Maßrahmen, doch nur ein verschwindend geringer Anteil der Kunden will das Rad mit dem Händler zusammen selbst komplettieren.

Alt eingesessen, aber innovativ

Auch intern erweist sich die Traditionsfirma als modern: Stolz zeigt uns Kleinebenne die riesigen Gestelle voller Laufräder. Diese Laufradwagen hat Michael Manck entwickelt – mit Blick auf Effizienz und Komfort bei den Arbeitsabläufen. Die Wagen können 56 Laufräder aufnehmen.
Auch der noch neue Einspeich-Roboter fällt unter die Kategorie Effizienz – und erleichtert das Arbeiten. Er wurde hauptsächlich angeschafft, weil die Angestellten über Probleme mit den Sehnen vom vielen Einspeichen klagten. Jetzt macht das der Roboter – und zwar, man will es kaum sagen – mindestens genauso gut. Die Speichen müssen nur noch »eingelocht«, sprich, in die Felgen gepinnt werden – den Rest macht Kollege Automat.
Ein Blick auf die Fracht der genannten vierstöckigen Laufradwagen zeigt: Die bestellten Velos sind fast durchwegs hochwertig ausgestattet. Fast jede zweite Bestellung hat eine Rohloff Speedhub an Bord, auch Pinion ist gut vertreten, hinzu kommen viele Räder, die mit Shimanos Steps-Motor ausgestattet werden. Der Riemenantrieb ist ebenfalls gut vertreten. »Unter Elffach-Nabe wird kaum eingekauft. Und wenn die Kunden komplett auf Maß bestellen«, sagt Kleinebenne, »dann gibt’s oft kein Halten mehr. Man gibt heute gern Geld fürs Fahrrad aus. Bei uns wird vorwiegend im Hochpreis-Sektor eingekauft.«
Diese Positionierung ist für das Patria-Konzept natürlich auch nötig: Alle Rahmen werden per Hand gemufft und gelötet. Das braucht Arbeitskraft und -Zeit, Know-how und Erfahrung. Dass es hier anders läuft als bei fast allen anderen Herstellern, sieht man auf den ersten Blick in das Herzstück der Produktion. Man riecht sofort – hier wird gelötet. Dazu kommt das immer wieder einsetzende Fauchen der Brenner, die das verwendete Messing- oder Silberlot zum Schmelzen bringen und, unter den Händen erfahrener Rahmenbauer, für eine dauerhafte Rohrverbindung aus Stahl sorgen. Sie stehen an rustikalen Werkbänken und Rahmenvorrichtungen, die zum Teil – eben für die reinen Custom-Rahmen – in praktisch jedem Rohrmaß einstellbar sind. Geht es um Rahmen ohne Sondermaße, arbeiten die Rahmenbauer arbeitsteilig, sodass etwa der erste zehn Vorderbauten einer Serie durchlötet, bevor der nächste übernimmt und daran jeweils den Hinterbau setzt. Die Rahmen bestehen aus 25CroMo4-Stahl, die Maßrahmen vorwiegend aus hochwertigem, mehrfach konifiziertem Columbusrohr. Auch alles Weitere passiert hier in Leopoldshöhe. Nachbehandlung und Richten der Rahmen, Sandstrahlen, Lackieren, Montieren.
Los geht es aber eigentlich schon viel früher: Die Räder können vom Kunden frei konfiguriert werden – seit zwanzig Jahren. Damals war das ziemlich einzigartig – wie der Velochecker. Wer mit seiner Hilfe beim Händler die passende Geometrie gefunden hat, der kann sein Modell übers Internet individuell konfigurieren. Neben den Komponenten sind auch die Farben wählbar: Unter 16 Standardfarben und 99 aufpreispflichtigen RAL-Farben sollte jeder was finden. Selbst die Farbwünsche bei den Komponenten können – sofern vom Hersteller verschiedene Farben lieferbar sind – berücksichtigt werden. Das alles gilt unabhängig davon, ob es um einen Tourer und Alltagsrad – die am meisten nachgefragte Fahrradgattung – oder eben ein Cargobike geht.

Pickup: Der Ikea-Transporter

Das Pickup hat 2015 für Wirbel gesorgt und den Eurobike Award gewonnen. Die Besonderheit des einspurigen Transporters mit 100 Kilogramm Nutzlast: Er schrumpft dank des Faltmechanismus seiner Ladefläche auf etwas mehr als die Länge eines normalen Rads zusammen. Das Pickup ist damit auch fahrbar wie ein solches und braucht auch ungefähr nur so viel Abstellfläche. »Genau das war auch die Herausforderung«, sagt Entwickler Manck. »Ein schnell breit anpassbares und damit familientaugliches Lastenrad zu bauen, das auch bei Platzproblemen funktioniert.« Die Transportfläche des Rads ist mit einem Scherenmechanismus ausgestattet, sie faltet beim Zusammenschieben nach oben. Für die nötige Verwindungssteifigkeit sorgt ein Stahlrohr von 60 Millimeter Durchmesser darunter, das sich beim Falten unter das Unterrohr schiebt und mit Schnellspanner arretiert wird. Wahlweise kann das Pickup auch mit Goswiss Drive geliefert werden – eine Option, die schon aufgrund des Gewichts eines Lastenrads für viele sinnvoll erscheint. Der Einstiegspreis liegt bei knapp 4.000 Euro, und auch hier ist neben dem Unisize-Rahmen ein Maßrahmen möglich.
»Natürlich ist so ein Projekt aufwendig«, sagt Manck. Und Kleinebenne fügt an: »Ja, das Pickup war ein einziges Optimierungsproblem! Der Aufwand war sehr hoch – die Entwicklung hat mein Kollege ja von Grund auf per CAD angegangen.« Das bedeutete auch, dass mit jedem geänderten Parameter wieder eine neue Ausgangslage geschaffen wird, die neu berechnet werden muss. Und natürlich ist es damit nicht getan, schließlich müssen auch die Werkzeuge dafür entwickelt und gebaut werden, die Rahmenvorrichtung etc. Ein ganzes Jahr hat Manck am Pickup gearbeitet, doch der Erfolg gibt ihm Recht.
Und was könnte einen Konstrukteur mehr Bestätigung verschaffen, als dass große Unternehmen auf das Produkt aufmerksam werden und es einsetzen? So hat Ikea in Wuppertal zwei Pickup gekauft und verleiht sie nun an Kunden, die ihre Möbel per Bike nach Hause bringen wollen.

Die Neuentwicklung: Schnell, leicht, stark.

Einen anderen Kundenstamm will man mit dem neuen Lastenrad ansprechen: Es ist auch einspurig angelegt, hat aber, wie ein klassisches Bäckerrad oder das Kemper Filibus, seine hölzerne Transportfläche schräg über dem kleinen Vorderrad. »Für Leute, die weder zwei Kinder noch Waschmaschinen transportieren wollen« – also weder besonders viel Volumen noch besonders viel Gewicht – aber dennoch ein zuverlässiges Lastenrad für den täglichen Gebrauch haben wollen. Mit 20 Kilogramm eher leicht, sehr wendig, schnell und nicht zu kostspielig soll es sein. Ein Rad für den Großeinkauf oder die Fahrt zum Baumarkt. Auf Faltbarkeit wird verzichtet. Entwickler Manck fährt derzeit regelmäßig seine 13 Kilometer damit ins Unternehmen – »und auch mal über Feldwege. Und Bordsteine sind gar kein Problem«, meint der passionierte Mountainbiker. Tatsächlich läuft das Vorserienmodell ungewöhnlich wendig und flink. Für die Scheibenbrems-Version, die es in der Serie auch geben wird, bekommt es noch eine Feingussgabel mit verstärkten Gabelscheiden. Die Transportkiste für den Einsteiger wird aus Kunststoff sein, aber auch eine Holzbox soll es geben. Bei einer Probefahrt vor Ort schlug sich das Bike mit etwa 40 Kilogramm, die zusätzlich im Behälter nicht mal rutschfest verstaut waren, überraschend gut für einen Transporter mit relativ hohem Schwerpunkt.

Ingenieurskunst schafft Praxisnutzen

Einen Grund für die Steifigkeit der Konstruktion zeigt Manck später im Detail: Das lange Steuerrohr des Rads wird nicht nur vom Oberrohr und dem fast waagerecht verlaufenden Unterrohr durchbrochen, ein weiterer Rahmenzug führt vom Sitzrohr bis hin zum Steuerkopf über dem Vorderrad. Und diese Verbindungen sind nicht einfach verlötete Rohre: »Hier sorgen zwei Kreuzmuffen für Stabilität. Zusammen mit den zwei Bohrungen mit verstärkten Stahlhülsen reicht so ein relativ filigranes Rohr, um viel Steifigkeit zu erreichen. So sparen wir hier wieder Gewicht, ohne die Sicherheit zu verringern«, erklärt Maschinenbauer Manck. Er ist sich bewusst, dass er mit Stahlbau mit demselben Aufwand eine geringere Steifigkeit erhält als mit Aluminium. »Dafür ist die Dauerhaltbarkeit von Stahl viel höher als die von Alu, und das ist in unserem Falle hier wichtiger.«
Das neue Lastenrad verschlang nur einen Bruchteil an Entwicklungszeit des ersten. Vor allem in Bezug auf die Geometrie konnte der Entwickler enorm viel Erfahrung aus dem Pickup-Konzept in das Rad einbringen. Und dank der Rahmenbau-Software, die Kleinebenne seit 20 Jahren immer weiterentwickelt, führen Veränderungen in der Konstruktion, zum Beispiel in der Materialstärke, zu klar in Zahlen ausgedrückten Veränderungen in Sachen Belastbarkeit oder Verwindung. Das neue Cargobike – bis Redaktionsschluss gab es noch keinen Namen dafür – ist ab sofort erhältlich, der Einstiegspreis liegt bei etwa 2.480 Euro. Mit hochwertiger Vollausstattung, Shimano-Steps-Motor – den man bei Patria für eine sehr harmonische Motor-Lösung hält – und Di2-Schaltung kostet es 4.280 Euro.
Die Erfahrung, dass die Kunden mittlerweile auch im Fahrradbereich gern angemessene Priese für hohe Qualität bezahlen, lässt Patria sehr zuversichtlich in die Zukunft schauen. »Wir haben in den letzten 20 Jahren die Erfahrung gemacht, dass die Menschen immer anspruchsvoller wurden. Dieser Trend setzt sich fort, und wir werden auch in Zukunft hohe Ansprüche erfüllen, weil wir mit ihnen wachsen können,« erwartet Jochen Kleinebenne.

12. Februar 2017 von Georg Bleicher
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