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Jochen Kleinebenne vor dem Firmengebäude
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Vor Ort beim Bielefelder Fahrradhersteller

KULTFAKTOR TRADITION: PATRIA - KLASSIKER MIT MEHRWERT

Retro ist hip, auch im Fahrradbereich. Die Optik erinnert immer an traditionelle Bauweise, technisch ist bei solchen Produkten dagegen selten wirklich Originäres zu finden. Wer nicht nur retro tut, sondern auch klassisch arbeitet, ist da bei den Fans fein raus. Wie etwa die Bielefelder Firma Patria. Bei ihr kommt noch hinzu, dass

Jochen Kleinebenne vor dem FirmengebäudeDer Velochecker von PatriaPlanung auf dem CAD-ProgrammPräzision am glühenden Rohr2500 Räder verlassen jährlich das Unternehmen

ihre Räder bei allem klassischen Auftritt in Sachen Ergonomie aber State of the Art sind. Und da sage man noch einmal, Bielefeld hat seine beste Zeit in Sachen Fahrrad schon lange hinter sich …

Moderne Zeiten

Zugegeben, der Name spiegelt nicht gerade dynamische Innovationsfreude. Dass man hier trotzdem modern denkt, sieht man schon am Chef Jochen Kleinebenne. Er kommt ein paar Minuten später zum Termin: „Ich habe heute Kinderdienst, das dauert manchmal ein bisschen länger“, meint er sympathisch lächelnd. Überhaupt herrscht eine eher familiäre Atmosphäre in der Patria-Manufaktur im Vorort Leopoldshöhe. In den Industrie-Hallen aus den 80erjahren mit etwa 1300 Quadratmetern Fläche arbeiten derzeit 15 Festangestellte und drei Azubis. Die Stimmung ist gut, wie meist seit dem Neuanfang in den Neunzigerjahren.
Zuvor war da ein Bruch, denn die Fahrrad-Firma der Kleinebennes gibt es schon viel länger: Der Großvater, Ernst, Angestellter bei den Dürkopp-Fahrradwerken, machte sich Mitte des letzten Jahrhunderts mit einem Fahrradreparaturbetrieb selbstständig, stieg bald in den Rahmenbau ein. Sein Sohn Dieter Kleinebenne baute in den Siebzigern und Achtzigern bereits Rahmen für viele verschiedene Marken. In diese Zeit fällt auch die Übernahme des bekannten Markennamens. Der kam eigentlich aus Solingen; hergestellt wurden vom damaligen Träger der Marke unter anderem auch – richtig: Klingen, Messer und Scheren. Dieter Kleinebenne machte die Fahrradmarke Patria daraus. Erfolgreich. „Epple hat damals Lastzugweise Rahmen gekauft“, erzählt der Gründer-Enkel. Trotzdem kam 1995 der Konkurs. Der Preisdruck war durch die großflächige Verlagerung der Rahmenherstellung nach Asien immer höher geworden. Das Werk mit damals rund 40 Mitarbeitern musste schließen.

Auf das wesentliche reduziert

Das Unternehmen wurde umgekrempelt und in seiner jetzigen Form wiederaufgebaut, von Vater Dieter dem Bruder Fred und Jochen Kleinebenne: Eine Fahrradmanufaktur mit eigenem Rahmenbau. Stahlrahmen. „Das war eine extrem spannende Zeit,“ erzählt Kleinebenne, der damals als Maschinenbauer gerade sein Studium zum Wirtschaftsingenieur abschloss. „Eigentlich war alles da: Das Know-how, die Erfahrung des Vaters und ein bekannter Markennamen.“ Jetzt ging es darum, die Kernkompetenzen zu festigen: Den Rahmenbau mit spezieller Ausrichtung auf die Ergonomie. Mit fünf Mitarbeitern fing Patria an, ausschließlich Stahlräder im hochwertigen Segment zu bauen. Kleinebenne begann mit Custom-Made-Optionen, ab 1997 konnten die Räder frei konfiguriert werden.
Einer der Leitsätze bei Patria: „Beim Fahrrad kommt es auf den Rahmen an!“ Hört sich banal an, ist es aber nicht. Schließlich bestimmen die wenigen Rohre und deren Winkel zueinander Haltung und Komfort des Fahrers sowie die wichtigsten (Fahr-)Eigenschaften des Bikes. Wer sich also damit auskennt, denkt weiter. Dazu kam, dass Händler immer öfter Kundenwünsche mit Sondergrößen an das Unternehmen weitergaben. Zusammen mit der deutschen Ergonomie-Päpstin Juliane Neuss entwickelte Kleinebenne Ende der 90er schließlich das Kinderrad Skippy. Aus der intensiven Beschäftigung mit Anatomie und Ergonomie „war der Velo-Checker eigentlich nur noch die logische Schlussfolgerung“, so Kleinebenne.

Check it out!

Dieser Messapparat, der bei den Patria-Händlern steht, ist eine Maschine zur genauen Bestimmung der individuell passenden Rahmenform. Wenn der Kunde sein Patria-Modell ausgesucht hat, kann der Händler mit dem Velochecker die idealen Rahmenmaße bestimmen. Rahmenhöhe, Oberrohlänge und Sitzwinkel können auf dem Fahrrad-Imitat ermittelt werden. Besonders sinnvoll ist das bei Kunden mit Körpergrößen jenseits der Normen, hohem Gewicht oder genauen Vorstellungen über Komfort und Haltung.
Noch breiter einsetzbar wird der Velochecker 2011: durch eine Waage am Vorbau kann auch gemessen werden, wie stark sich der Kunde beim Fahren am Lenker abstützt. Den Radtyp und die Konstitution der Testperson mit eingerechnet gibt Aufschluss darüber, wie ergonomisch sinnvoll und komfortabel die jeweilige Rahmenform für den Kunden ist.
Der kann sein Traumrad dann auch im Internet zusammenstellen: Der Patria-Konfigurator unter www.patria.net zeigt alle Custom-Möglichkeiten des jeweiligen Modells an. Nachdem Modell und gewünschte Schaltung angeklickt wurden, eröffnet sich eine enorme Optionsvielfalt. Dabei ist der Konfigurator intuitiv zu bedienen; er schließt nicht kompatible Optionen aus und bietet gelegentlich auch sinnvollere Möglichkeiten an. Der Endpreis des Rads wird bei jeder Variation neu berechnet – und „die Bedienung soll bald noch einfacher und schöner werden“, verspricht Kleinebenne.

Der Meister und die Matrix

Die optimalen Maße zu haben heißt aber nicht, das perfekte Rad schon im Kasten zu haben. Fragen wie: funktionierten diese Rohrlängen überhaupt bei dieser individuellen Belastung? Brauche ich dickwandigere Rohre? Welche Muffen muss ich bei diesen Winkeln und Rohren verwenden? Hier hilft die langjährige Erfahrung des Rahmenbauers – aber nicht nur: Schon als Student arbeitete Kleinebenne an einer Software, die die einzelnen Rahmen-Daten erfassen und das Ergebnis, quasi den virtuellen Rahmen berechnen und prüfen sollte. In der letzten Version des Programms werden heute einfach das Modell des gewünschten Rahmens und die beabsichtigten Abweichungen vom Standard eingegeben, und auf dem Monitor erscheinen sofort klare Angaben über die zu erwartende Stabilität und Verwindungssteifigkeit sowie ähnliche Faktoren des Rahmens. Berechnet die Software eine zu geringe Rahmensteifigkeit, kann zum Beispiel das virtuelle Oberrohr gegen eines mit nächsthöherer Wandstärke ausgetauscht werden, und mit dem nächsten Klick sieht man, ob die Werte nun im grünen Bereich liegen. Auch Sonderformen wie große Rahmen ohne das übliche Trapez-Rohr lassen sich damit planen. Ein faszinierendes CAD-Werkzeug, auf das der Unternehmer bei den vielen Möglichkeiten der Individualisierung seiner Rahmen bei aller Erfahrung nicht mehr verzichten möchte – immerhin sind etwa 20 Prozent aller verkauften Räder Maßanfertigungen, der Rest eine der 160 verschiedenen lieferbaren Grundgeometrien. Dazu kommt: Patria gibt satte 15 Jahre Garantie auf den Rahmen – dazu braucht man schon eine sichere Basis. Kleinebenne schwört auf Stahl. „Im Endeffekt kann man mit Alurohren vielleicht 400 Gramm Rahmengewicht bei gleicher Stabilität sparen. Doch was bei Alu fehlt ist die Dauerhaltbarkeit“, sagt er. „Nach 50.000 Kilometern ist ein Alurahmen durch, und gerade Kunden unserer Maßrahmen fahre oft viel mehr“, ergänzt er stolz.

Beste Verbindungen

Die Praxis kann man gleich vor der Bürotüre bestaunen: An drei Rahmenbau-Plätzen werden alle verkauften Rahmen, im Jahr etwa 2500 Stück, aufgebaut. Nachdem die Bestellung aus dem Büro übernommen und die Rahmenrohre inklusive der passenden Verbindungsmuffen kommissioniert wurden, wird hier traditionell und mit hochwertigen Werkstoffen von Hand gelötet. Die Rohre dazu kommen vor allem vom namhaften Anbieter Poppe und Potthoff im benachbarten Werther. Für Rennrad-Rahmen greift Patria aber zu den italienischen Columbus- und Dedacciai-Rohrsätzen.
Schon Zusehen fasziniert: Der in der Bank vorgeheftete Rahmen wird so schnell und exakt gelötet, dass die Lötstellen jeweils immer nur für wenige Momente auf die Temperatur des Lots erwärmt werden müssen. Die Präzision, mit der der Mann am glühenden Rohr den siedenden Werkstoff fließen lässt, verblüfft. Heraus kommen gemuffte Verbindungen, die auch für den Laien als wirklich sehr sauber erkennbar sind.
Nachdem der Rahmen mit Stahlschrot bestrahlt wurde und frei von Lötrückständen und Fetten ist, bekommt er eine Rostschutz-Grundierung, Epoxyd-Pulver. Darauf kommt eine Beschichtung als Grundlage für die eigentliche Wunschfarbe – 20 Farben stehen zur Wahl, zu einem Mehrpreis von 80 Euro kann der Kunde aber auch jede RAL-Farbe wählen. Versiegelt wird wieder mit Pulver-Klarlack – all das an einem eigenen Lackierungs-Arbeitsplatz im Werk.
Meist übernehmen nur zwei Monteure den Aufbau eines kompletten Rads – so sorgt man für mehr Transparenz und im Endeffekt auch hohe Verantwortung für das Endprodukt. Und das kann sich natürlich sehen lassen: Wer in Handarbeit investiert, weiß warum und erwartet ein technisch wie optisch lupenreines Produkt. Und Patria-Käufer zahlen gern für hohe Qualität: Weitaus die meisten Räder sind mit Rohloffs Speedhub bestückt – die hochpreisigste Schaltungsoption.

Kultobjekt durch Zufall

Die Traditionsfirma sieht Trends kritisch: Natürlich gibt es Patria-Bikes auch als Pedelecs, allerdings findet der Patria-Chef, dass der derzeitige Hype um die Rückenwind-Räder nicht der Realität auf den Straßen entspricht – und das auch auf Dauer nicht so sein wird. Aber auch hier gilt: Was das Unternehmen macht, macht es bis ins Detail genau. Räder mit dem kräftigen Bionx-Antrieb erhalten zum Beispiel verstärkte Rohrsätze, die der höheren Belastung und Geschwindigkeit angepasst sind.
Ein anderer derzeitiger Trend ist geradezu auf die Firma Patria zugeschnitten: Fixie und Singlespeed. Auch hier herrscht Stahl-Kult und Detailliebe. Findet sich das Unternehmen da nicht exakt wieder? Kleinebenne winkt lächelnd ab: „Wir sind hip? Mag sein, aber wir waren schon immer so.“

11. Mai 2011 von Georg Bleicher
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