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Interview - Reanimated Bikes

Mehr als ein zweites Leben

Die Gründer von Reanimated-bikes wollen mehr Menschen in Wien zum Radfahren bewegen. Dafür gehen sie Wege, die in der Branche ausgesprochen unüblich, aber sehr reizvoll sind.

In Wien stehen geschätzt eine dreiviertel Million Fahrräder ungenutzt in den Kellern. Das zeigt, wie viele Menschen gerne Radfahren würden, es aber nicht tun. Richard Zirkl und Peter Pluhar, die Gründer von Reanimated-bikes, sehen das Problem im großen Angebot von Billigrädern. »Wer ein Fahrrad ohne Fachberatung und professionelle Anpassung kauft, hat nach zwei oder dreimal Fahren keinen Spaß mehr daran und lässt es wieder stehen«, sagt Richard. Die Kompagnons haben eine Lösung: Sie bauen erschwingliche Stadtfahrräder, die zuverlässig funktionieren. Um möglichst umweltfreundlich zu agieren, betreiben sie Upcycling. Sie nutzen hochwertige Rahmen von gebrauchten Rädern und verbauen Neuteile der oberen Mittelklasse, die sich problemlos jahrelang warten lassen.
Beide Gründer kommen aus dem metalltechnischen Bereich. Peter ist gelernter Kfz-Mechaniker und hat eine halbe Lehrverpflichtung an einer Schule. Richard ist Feinmechaniker und arbeitet gleichzeitig für sein eigenes Unternehmen im Bereich Tontechnik. Richard erklärt im Interview das Konzept von Reanimated-bikes.

Ihr seid 2010 aus ganz anderen Bereichen gekommen. Was war euer Zugang zum Fahrradmarkt?

Wir waren damals schon sehr fahrradaffin und haben alle unsere Wege auf dem Fahrrad erledigt. Ich habe mich auch kurz im Mountainbiken versucht und so meine Liebe zur Fahrradtechnik entdeckt. Mit Reanimated-bikes wollten wir uns stärker auf die Technik einlassen, als sonst am Markt üblich. Aus technischer Sicht gibt es letztendlich für alles eine Lösung. Es dauert vielleicht etwas länger, zahlt sich am Ende aber doch aus.

Hattet ihr damals ein Vorbild?

Nein, es gab und gibt einen Umstand, den wir ändern wollen: Der Radverkehr hat zu wenig Platz in den Ballungsgebieten und man muss langsam realisieren, dass Autos zu viel Platz brauchen und zu viel CO2 ausstoßen. Gleichzeitig werden jedes Jahr Tausende gebrauchte Fahrräder eingesammelt und verschrottet. Das macht die verschwenderische Art unserer Gesellschaft sichtbar. Für unser Vorhaben ist das allerdings eine mehr als wertvolle Ressource. Wir können hier im Urban-Mining-Prinzip Rohmaterial schürfen und daraus nachhaltige Fahrräder produzieren.

Welche Herausforderungen musstet ihr überwinden?

Wir wurden lang als Secondhandshop verstanden, tun aber mehr als einfach nur gebrauchte Fahrräder wieder fahrbereit zu machen. Bei uns werden Räder komplett zerlegt und neu aufgebaut. Dadurch entsteht ein neues Fahrrad. Den Kunden diesen Unterschied zu erklären, war eine der Herausforderungen, vor allem, wenn es um den Preis geht. Dazu kommt, dass Radfahren in Wien nicht so naheliegend ist, weil wir ein hervorragendes öffentliches Verkehrsnetz haben. Laut Mobilitätsreport Wien fielen bis 2019 nur 7 Prozent des Stadtverkehrs auf das Fahrrad.(1)
Das könnte sich jetzt ändern, weil die Coronakrise viele Leute zum Radfahren animiert hat. Laut Verkehrsclub Österreich (VCÖ) wuchs der Radverkehr in Wien gegenüber dem Vorjahr um 45 Prozent.(2)
Ich hoffe, dass wir die 10-Prozent-Marke bald überschreiten. Wenn mehr Leute mit dem Rad fahren, dann steigt auch die Euphorie. Aber nach wie vor müssen sich die Radfahrer ihren Weg durch die Stadt härter erkämpfen als die Autofahrer, und das ist auch eine Herausforderung.

Ihr baut leichte Stadträder aus den Rahmen von Mountainbikes. Wie entstand diese Idee?

Damit hat alles begonnen, das ist die Wurzel von »Neubau«, so nennen wir unser urbanes Fahrrad. Bei sportlich genutzten Fahrrädern schreitet die Technik rasant voran und alte Modelle sind schnell überholt. Das heißt, alte Mountainbikes sind nicht mehr als Mountainbikes verwendbar, haben aber Eigenschaften, die für ein Stadtrad gerade recht sind. Beim Aufbau eines Neubaus wird das ursprüngliche Konzept des Fahrrads so verändert, dass ein Stadtrad mit den Vorteilen eines Sportrads entsteht. Es geht vor allem darum, eine adäquate, aufrechte Sitzposition für den Straßenverkehr zu schaffen. Das ist bei einem herkömmlich aufgebauten Mountainbike nicht möglich.

Welche Leistungen bietet ihr an?

Wir bieten Service, eine kostenlose Beratung für den Fahrradkauf und den Umbau eines bestehenden Fahrrads an. Für die Produktion von stadtfähigen Fahrrädern haben wir ein vorgefertigtes Konzept, mit dem wir Kleinserien produzieren. Dadurch gibt es immer eine kleine Auswahl an Demofahrrädern, die man bei uns im Shop ausprobieren und sofort kaufen kann. Aber meistens wünschen unsere Kunden eine andere Farbe oder eine andere Größe. Bestellte Fahrräder bauen wir innerhalb von wenigen Tagen. Seit zwei Jahren haben wir auch eine eigene Beschichtungsstraße und können die Räder selbst neu beschichten. Deswegen geht das recht schnell.

Woher bezieht ihr euer Material für das Upcycling?

In Wien werden ungenutzt herumstehende Fahrräder von der Magistratsabteilung 48 (MA48) abtransportiert. Wenn die Besitzer sie nicht innerhalb einer bestimmten Frist auslösen, werden sie verschrottet. Vorher dürfen wir uns aber noch brauchbares Material für unsere Produktion aussuchen. Dabei finden wir viele Fahrradrahmen, die hochwertig sind – nur eben nicht fahrbereit. Das ist die Hauptquelle für unser Urban-Mining. Außerdem machen wir Kellerräumungen, die wir gratis anbieten, dafür, dass die Räder in unseren Besitz übergehen. Viele Privatpersonen überlassen uns ihre alten Fahrräder auch in Form von Spenden.

Was müsst ihr zukaufen?

Wir verwenden hauptsächlich die Rahmen. Alles, was darauf verbaut werden muss, kaufen wir neu zu: Schaltung, Bremsen, Gabeln, Lenker, Sattel, Räder, Reifen, Ketten. Das Material, das übrig bleibt, lagern wir ein und lassen es dann in den Reparaturbetrieb einfließen. Das ist vor allem dann nützlich, wenn wir ältere Räder reanimieren, für die keine Ersatzteile mehr gebaut werden und bei denen kein neues Material mehr passt.

Wie viele Räder verkauft ihr und zu welchen Preisen?

Das ist saisonabhängig. Aber über das Jahr verteilt, verkaufen wir circa 150 Fahrräder. Unsere Preise variieren je nach Modell und Ausstattungsvariante und gehen bis circa 2500 Euro. Den Neubau in der Basisvariante gibt es ab 790 Euro. Upgrades sind eine neue Pulverbeschichtung und eine integrierte Lichtanlage mit Nabendynamo. Auf Anfrage statten wir die Fahrräder mit Komponenten im High-End-Segment aus. Viele Kunden lassen auch Gepäckträger mit Satteltaschen mitverbauen. Die Vollvariante kostet im Moment 1090 Euro.

Ihr bietet auch Service an?

Ja, wir sind Anlaufstelle für jeden, der ein Problem mit seinem Fahrrad hat, sind aber vor allem auf den Service für ältere Modelle spezialisiert. Für ein 20 Jahre altes Fahrrad ist es schwer, einen Service zu finden, weil die Ersatzteile nicht mehr hergestellt werden und gewöhnliche Werkstätten keine Reparaturen in dem Bereich anbieten. Aber die meisten älteren Fahrräder lassen sich problemlos warten – vorausgesetzt die Substanz und Qualität lassen dies zu und wir haben die notwendigen Ersatzteile im Lager. Oft kann man sie auch auf modernere Standards umbauen. Das ist ein großer Teil unseres Geschäfts.

Wie habt ihr das Unternehmen organisiert?

Wir haben nie einen Kredit aufgenommen und am Anfang etwas Privatvermögen investiert, um dann Schritt für Schritt zu vergrößern. Unser erster Standort war ein Keller in einem Wohnhaus. Dort haben wir angefangen, Räder zu sammeln und zu zerlegen. Später haben wir ein Souterrain für Produktion und Lager gemietet und zuletzt ein Geschäftslokal. Wir hatten kein großes Businessmodell. Wir wollten einfach die Situation in unserer Stadt verbessern und sind immerhin nach wie vor schuldenfrei. Nachhaltig geführte Betriebe haben einen Aufwand, der schwer zu erwirtschaften ist. Unsere Kunden begrüßen unser Engagement, aber wenn es dann mehr kostet als ein vergleichbares nicht so umweltfreundliches Produkt, wird es doch etwas problematisch. Wir arbeiten wohl mit gebrauchten Fahrradrahmen, die uns kostenlos zur Verfügung stehen, aber in unseren Produkten steckt sehr viel Arbeit.

Wie habt ihr die Unternehmensabläufe organisiert?

Die Räder von der MA48 kommen zuerst in eine geschützte Werkstätte, die von der Organisation Jugend am Werk betrieben wird und Menschen mit speziellen Bedürfnissen einen Arbeitsplatz bietet. Dort werden sie zerlegt, aussortiert, gereinigt und vorbehandelt. Die einzelnen Teile kommen dann in unser Lager, werden einsortiert und als Ressource freigegeben. Wir haben etwa 120 qm Lagerfläche, in die wir auch einen Montageständer und ein Abteil mit einer Beschichtungsstraße integriert haben. Das Geschäftslokal hat etwa 50 qm und wird momentan noch zusätzlich als Werkstatt genutzt. Auf zwei Montageständern werden Räder repariert und neu gebaut. Dadurch sieht man auch, was bei uns passiert.

Was sind eure nächsten Pläne?

Mittlerweile bieten wir auch Workshops an, in denen Interessierte lernen können, wie sie ihr Fahrrad selbst warten und wieder in Schuss bringen können. Außerdem entwickeln wir natürlich auch unsere Kollektion ständig weiter. Zuletzt haben wir ein Neubaumodell entwickelt, das mitwächst. Mit dem Angebot möchten wir auch junge Menschen im Wachstum zum Radfahren bringen. Sie können eine SML-Version (small, medium, large) kaufen, die von uns bei Bedarf an die Größe angepasst wird, indem wir den Rahmen austauschen. Bald wird es übrigens auch einen Online-Konfigurator auf unserer Website geben. Das heißt, man kann sich sein Fahrrad auf der Website zusammenstellen, in Auftrag geben und nach Hause liefern lassen. Nach Deutschland liefern wir mit der Bahn, innerhalb von Wien mit dem Fahrradboten: Pedal Power To The People! //

7. September 2020 von Hildegard Suntinger
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