9 Minuten Lesedauer
i

Schulung - Frauen als Kundinnen

Schwanger Fahrrad fahren? – Ja, aber

Viele Frauen, die schwanger werden, stellen ihr Fahrrad bis auf Weiteres in den Keller oder in die Garage. Sie fürchten negative Folgen sowohl für die Zeit der Schwangerschaft als auch für den Prozess der Geburt. Marion Sulprizio, Diplompsychologin und Leiterin des Coaching-Teams und Arbeitskreises Sport und Schwangerschaft an der Deutschen Sporthochschule Köln berät seit Jahren schwangere Frauen bei der Frage, welche sportliche Aktivitäten sie problemlos weiter ausüben können und auf was sie dabei achten sollten. Einige Tipps sind auch für den Handel interessant.

Frau Sulprizio, Schwangerschaft und Sport – geht das überhaupt zusammen? Und wenn ja, welche Sportarten eignen sich besonders gut?
Wir empfehlen Fahrradfahren, aber auch (Nordic-)Walking und Schwimmen sowie Aqua-Fitness oder Wassergymnastik. Insbesondere durch den Auftrieb im Wasser können mit den letztgenannten Sportarten viele Frauen bis in die späte Schwangerschaft ihre körperliche Aktivität aufrechterhalten. Auch die sogenannten sanften Sportarten wie (Schwangerschafts-)Gymnastik, Pilates und einige Formen von Yoga halten schwangere Frauen fit.
Dagegen sollten sie Sportarten, die mit Wucht ausgeführt werden oder mit Stößen und Schlägen verbunden sind, prinzipiell meiden. Auch Sprungelemente – Stichwort »High Impact« – sollten möglichst gering gehalten werden, um den Beckenboden zu schonen. Joggen sollten nur geübte Läuferinnen. Tauchen und Aufenthalte in über 2.500 Metern Höhe sollten für Schwangere tabu sein.
Ein moderates Ausdauertraining, dazu zählt das Fahrradfahren, empfehlen wir in der Schwangerschaft, weil es die Arbeit von Herz und Lunge des mütterlichen Organismus fördert, das heißt, die Kondition und das Allgemeinbefinden der Schwangeren verbessern sich. Nachgewiesen ist auch, dass das Kind von der Kondition der Mutter profitiert. Babys von Frauen, die während der Schwangerschaft aktiv blieben, sind in der Regel fitter und seltener adipös, neigen also weniger zur Fettleibigkeit.
Aufgrund der geringen Belastung auf den Beckenboden können Frauen auch bis in die Spätschwangerschaft Fahrrad fahren. Zudem hat das Fahrradfahren auch psychologische Vorteile: Stimmungsschwankungen reduzieren sich, ein positives Körperbild bleibt erhalten.

Kann das Fahrradfahren während der Schwangerschaft auch negative Folgen haben?
Aus Sicht des interdisziplinären Arbeitskreises Sport und Schwangerschaft nicht, wenn einige Grundregeln beachtet werden. Nachteile können nur in Folge von Stürzen erwachsen, da bei schwerwiegenden Verletzungen Schwangere nicht angemessen medizinisch versorgt werden können. So sind z.B. Narkosen bei einer Operation für sie problematisch.

Zu Beginn der Schwangerschaft stehen der Frau alle Wunschräder offen. Der Bauch stört ja noch nicht. Je weiter die Schwangerschaft fortschreitet, desto sinnvoller ist es dann, in aufrechter Sitzposition zu radeln.Marion SulprizioDiplompsychologin und Leiterin des Coaching-Teams und Arbeitskreises Sport und Schwangerschaft an der Deutschen Sporthochschule Köln

Betrachtet man das Stadtradeln und Mountainbiken: Welche Grundregeln sollten denn Schwangere dabei beachten?
Das Stadtradeln ist optimal, da viele Besorgungen mit dem Fahrrad erledigt werden können. So lässt sich der Sport auch gut in den Alltag integrieren und erfährt eine gewisse Regelmäßigkeit, die sehr wichtig ist.
Mountainbiken ist etwas kritischer zu sehen, denn der Körper sollte keine großen Erschütterungen erfahren und auf Sprünge sollten schwangere Frauen auf jeden Fall verzichten, um das Sturzrisiko und starke Erschütterungen durch Wurzeln, Steine etc. zu minimieren. Am besten fahren sie nur auf kontrollierbaren Strecken und im Schwierigkeitsgrad S0 und S1.
Wir empfehlen auch, dass die Aktivitäten nicht länger als eine Stunde ausgeübt werden sollten. Zwei Gründe sprechen dafür: Zum einen steigt bei einer langen Trainingsdauer die Körperkerntemperatur relativ stark an. Man geht davon aus, dass die Temperatur in den ersten 45 Minuten im Schnitt um circa 1,5° C ansteigt und dann ein Plateau erreicht. Es wird aktuell davon ausgegangen, Humanstudien dazu fehlen allerdings noch, dass eine Körperkerntemperatur von über 39,2° C in der Frühschwangerschaft mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko einhergeht. Bei langen, exzessiven Belastungen wie einem Marathonlauf weisen Athletinnen zum Teil Temperaturen von über 40° C auf. Sicherlich hängt der Temperaturanstieg auch sehr von der Sportart, der Intensität und vom Trainingszustand ab.
Zum zweiten sollte die Energiebilanz immer in der Balance bleiben. Bei Belastungen von unter einer Stunde ist eine zusätzliche Energiezufuhr während des Trainings in der Regel nicht notwendig.

Und was empfehlen Sie Triathletinnen während der Schwangerschaft?
Ausdauertraining in der Schwangerschaft ist generell empfehlenswert. Beim Triathlon mit seinen Elementen Schwimmen, Radfahren und Laufen gibt es jedoch einige Aspekte zu berücksichtigen. Generell sollten Schwangere ein Training in hoch intensiven Bereichen in allen drei Disziplinen vermeiden.
Das Schwimmen weist einen sehr positiven Effekt auf: Das Wasser trägt das Körpergewicht und schont so die Gelenke und Bänder. Ein wichtiger Aspekt, denn der Botenstoff Relaxin, der während der Schwangerschaft ausgeschüttet wird, erhöht die Dehnbarkeit der Sehnen und Bänder und damit auch die Verletzungsgefahr.
Sport im Wasser eignet sich auch bei Rückenproblemen, unter denen Schwangere oft leiden, sehr gut, weil hier die Rückenmuskulatur trainiert wird und die Gelenke entlastet werden. Besonders effektiv sind das Rückenschwimmen und Kraulen. Von den vier Grundschwimmarten Rücken, Kraul, Brust und Schmetterling sollten Schwangere nur die letzte Disziplin vermeiden. Beim Brustschwimmen kann der Halswirbel überstreckt werden und die Frau ins Hohlkreuz fallen. Deshalb sollte sie immer darauf achten, dass nur zum Atmen der Kopf gehoben wird und sie ansonsten gerade im Wasser liegt.
Laufen oder Joggen empfehlen wir aufgrund der Gefahr des »High Impact« nur unter bestimmten Bedingungen. Man sollte eine geübte Läuferin sein, denn es ist wichtig, auf einen kontrollierten, ökonomischen Laufstil zu achten und Erschütterungen zu vermeiden. Außerdem sollte der Beckenboden während des Laufens mitschwingen. Bei einem »normalen«, ökonomischen Laufstil wird die Vorwärts- und Abwärtsbewegung ausreichend abgefangen. Zudem gibt es Bauchgürtel, die den Bauch und das Gewebe zusätzlich stützen.
Generell raten wir jedoch, mit wachsendem Bauch, anstatt zu laufen, auf (Nordic-)Walking umzusteigen, um den Beckenboden zu schonen. Viele Frauen entscheiden sich aber mit wachsendem Bauch sowieso für eine Alternativsportart, weil ihnen das Laufen unangenehm wird.
Bei der letzten Triathlon-Disziplin, dem Fahrradfahren, sollten schwangere Frauen darauf achten, dass ihre Herzfrequenz zehn Schläge pro Minute niedriger als bei nicht schwangeren Altersgenossinnen liegt.

Auf was sollten Händler achten, wenn sie einer schwangeren Kundin ein neues Fahrrad verkaufen?
Zu Beginn der Schwangerschaft stehen der Frau alle Wunschräder offen. Der Bauch stört ja noch nicht. Je weiter die Schwangerschaft fortschreitet, desto sinnvoller ist es dann, in aufrechter Sitzposition zu radeln. Mountainbikes und Rennräder scheiden dann meist aus. Das Rennrad auch deshalb, weil es keine Federung hat, die sich schwangere Frauen in diesem Stadium der Schwangerschaft aber zurecht oft wünschen.
Signalisiert die Kundin, dass sie bei der Frage Schwangerschaft und sportliche Aktivität sehr unsicher ist, kann der Händler auch auf unser Beratungsteam verweisen (dshs-koeln.de/sport-und-schwangerschaft/coaching/coaching-team). Auf unserer Internet-Plattform stellen wir auch für Händler viele wichtige Informationen rund um das Thema Schwangerschaft und Sport bereit.

Manch schwangere Frau meint, es gäbe einen Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und Geburtskomplikationen? Teilen Sie diese Ansicht?
Nein, allerdings ist es wichtig, ein Training im anaeroben Bereich zu vermeiden, da dabei Laktat anfällt, das für den Fetus schädlich sein kann. Zudem kann die höhere Durchblutung der Muskulatur auf Kosten der Plazentadurchblutung des Kindes gehen und so seine Sauerstoffversorgung gefährden. Fühlen sich schwangere Frauen müde und schlapp, kann dies ein Anzeichen dafür sein, dass die Anstrengung für den Körper zu hoch ist. Dann sollten sie ruhig eine Trainingseinheit weglassen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wiesen in Studien überdies nach, dass sportlich aktive Schwangere zwar ebenso unter den Schmerzen während der Geburt leiden, aber weniger Eingriffe benötigen. Es gibt also weniger Komplikationen. Bisher konnte in keinem einzigen Fall Sport als auslösender Faktor für Geburtskomplikationen nachgewiesen werden.

Das Kind ist da! Ab wann können Frauen wieder Fahrradfahren?
Nach der Geburt ist es vor allem erst einmal wichtig, dass sich der Beckenboden von den Strapazen der Schwangerschaft und Geburt erholt und wieder gestärkt wird. Man geht allgemein davon aus, dass dies erst nach sechs bis neun Monaten der Fall ist. Meistens glauben Frauen, es sei alles wieder in Ordnung, wenn der Frauenarzt oder die Frauenärztin bei der Abschlussuntersuchung dies bescheinigt. Dieses ärztliche Fazit bedeutet aber lediglich, dass keine akute Senkung der Gebärmutter mehr besteht. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der individuelle Zustand des Beckenbodens bei jeder Frau anders ist.
Die Hormonumstellung im Wochenbett dauert auch mindestens drei bis vier Monate an. So lange schmerzen vielen Frauen oft die Fuß- oder Kniegelenke, da den Bändern noch ihre gewohnte Festigkeit fehlt. Daher sollten die Frauen bei Dehnübungen auch in dieser Zeit noch vorsichtig sein. Zudem kann ein gut trainierter Beckenboden durch starke Belastung, wie zum Beispiel beim Laufen und/oder Hüpfen sowie Springen, wieder schwächer werden. Daher raten wir kurz nach der Schwangerschaft zu Sportarten, die den Beckenboden schonen. Und schon sind wir wieder beim Fahrradfahren, Inlinen, (Nordic-)Walking sowie bei den vielen sportlichen Aktivitäten im Wasser.

6. April 2020 von Dorothea Weniger
Velobiz Plus
Die Kommentare sind nur
für unsere Abonnenten sichtbar.
Jahres-Abo
115 € pro Jahr
  • 12 Monate Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
  • 10 Ausgaben des exklusiven velobiz.de Magazins
Jetzt freischalten
30-Tage-Zugang
Einmalig 19 €
  • 30 Tage Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
Jetzt freischalten
Sie sind bereits Abonnent?
Zum Login