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Der kleine  Tocsen-Sensor fällt kaum auf am Helm, ist aber in der Lage, im Falle des Falles schnell Hilfe heranzuführen.
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Porträt // Tocsen

Sensor aus dem Schwarzwald

Das Start-up Tocsen verspricht schnellere Hilfe für Radfahrende bei schweren Unfällen. Das junge Unternehmen setzt auf präzise Messung am Kopf, eine App mit Rettungs-Community und Integration bei Helmherstellern.

Der kleine  Tocsen-Sensor fällt kaum auf am Helm, ist aber in der Lage, im Falle des Falles schnell Hilfe heranzuführen.Der kleine  Tocsen-Sensor fällt kaum auf am Helm, ist aber in der Lage, im Falle des Falles schnell Hilfe heranzuführen.Der kleine  Tocsen-Sensor fällt kaum auf am Helm, ist aber in der Lage, im Falle des Falles schnell Hilfe heranzuführen.

Ein schrilles Alarmsignal durchbricht das Idyll des sonnigen Nachmittags im Schwarzwald. Während die Ausflügler an der Bergstation der Schauinsland-Bahn kalte Getränke und die Aussicht genießen, greift der Radfahrer nach dem plärrenden Smartphone. Die Warnung lässt sich nicht ignorieren. Auf dem Display erscheint eine Push-Nachricht: Vom Handy eines Freundes ist ein Alarmsignal rausgegangen. Ein Klick in die verbundene App zeigt, wo der Sportskamerad sich befinden müsste. Schnell hin und Hilfe organisieren.

Der Auslöser für den Alarm an diesem Sommertag in Südwestdeutschland ist glücklicherweise kein Unfall, sondern Absicht: Christian Mai, 31, Head of Growth beim Freiburger Start-up Tocsen, ist jedenfalls wohlauf. Das ausgelöste Signal hat er per Simulationsmodus gestartet. Damit ist auch schnell erklärt, was das junge Unternehmen für Radsportler, Pendler, aber auch Reiter und andere Helmträger tun möchte: Über den Ansatz »Internet of Things« soll durch eine kleine technische Ergänzung am Equipment der Kunden ein erhebliches Mehr an Sicherheit für sehr seltene, aber lebensbedrohliche Situationen entstehen. Ein von Tocsen selbst entwickelter Sturzsensor am Fahrradhelm und die verbundene Applikation auf dem Smartphone sollen diese Notfallsituationen erkennen und schnelle Hilfe herbeiholen. Der Alarm geht an hinterlegte Kontakte und registrierte Nutzer in der Nähe.

Die Idee für das Geschäftsmodell kam Alexander Schumacher und Andreas Botsch aus einem realen Notfall, bei dem es noch keine elektronische Hilfe gab. Ein Mountainbike-Freund, über den sich die beiden auch kennengelernt haben, war vor etwa fünf Jahren allein im Gelände gestürzt und hatte dort für sehr lange Zeit mit gebrochenem Halswirbel gelegen. Er überlebte, inzwischen sei er auch wieder wohlauf, sagt Alexander Schumacher, 40. Doch das dramatische Ereignis brachte Schumacher und Botsch, zwei Männer aus der Industriesensorik, ins Grübeln. »Wir dachten damals: Überall machen wir Industrie 4.0, überall Hightech, aber für solche Notfälle gibt es keine Lösungen.« Das wollten die beiden ändern und gründeten ihr Start-up Tocsen gemeinsam mit dem ebenfalls befreundeten Digital-Experten Malte Buttjer Anfang 2019. Vorausgegangen war eine Marktforschung des Teams, bei dem die Nähe zur Radsport-Community im Badischen eine wichtige Rolle spielte.

Die Gründer gingen damals zum Bikefestival in Freiburg, präsentierten auf Flyern ein noch nicht existierendes Rettungssystem und sprachen mit potenziellen Kunden über Bedarf und Preise. »Von diesem Feedback aus haben wir entwickelt«, sagt Alexander Schumacher. Im Herbst 2018 organisierten die Gründer eine Crowdfunding-Kampagne auf Startnext, einer Plattform für Start-ups. Es ging einerseits um Kapital für eine nötige Spritzgussmaschine, um die Gehäuse der Sensoren herzustellen. Auf der anderen Seite war es aber vor allem eine gute Gelegenheit, um für das geplante Produkt und die Rettungs-App zu trommeln. Das Ziel: 13.500 Euro einsammeln. Am ersten Wochenende war die Hürde genommen, nach fünf Wochen waren 31.055 Euro mobilisiert. Zudem hatte Tocsen für ein Echo in Social Media und Radsportmedien gesorgt.

Wer heutzutage einen Besuch bei Tocsen in Freiburg macht, hat es mit einer richtigen Firma zu tun. Im zweiten Stock und im Keller eines Bürogebäudes unweit der historischen Altstadt hat das Unternehmen mit derzeit 14 Angestellten sein Zuhause. Oben im Büro sieht es aus wie bei vielen neuen Technikgründungen: ein Hochtisch, ein schicker Kühlschrank, Arbeitsplätze für die Leute mit Computern, ein Pokal und Werbematerial, mit dem das Team seine Erfahrungen sammelt. An der Wand hängen verschiedene Helmmodelle und zeigen, dass Tocsen in den vergangenen drei Jahren als Unternehmen einiges erreicht hat. Ausgestellt sind hier eben nicht nur Helme, an die das Team den eigenen Sensor angeklebt hat. Seit Ende 2020 kooperiert Tocsen auch mit Herstellern, Uvex war davon der erste, inzwischen sind auch Ekoi und Alpina mit dabei. Ein Modell an der Wand fällt aus der Reihe, es ist ein Schutzhelm für Waldarbeiter. Dem Team von Tocsen geht es darum, die Logik der sensorgestützten Rettungs-Software auf möglichst breite Füße zu stellen. Und es gibt, so sagt es der Wachstums-Verantwortliche Christian Mai, von vielen potenziellen Partnern Nachfrage.

Schaut man sich im Radmarkt um, dann ist Tocsen natürlich nicht der einzige Anbieter von sturz- oder einschlagerkennender Sensorik. Mit Specialized und Cratoni sind prominente Unternehmen ins Geschäft mit der Sicherheitssensorik eingestiegen, Helmhersteller wie POC setzen auf eigene, integrierte Technik. Die Relevanz dieser Systeme steigt.

Große Erfahrung mit der Sensorik

Das Team in Freiburg ist überzeugt, dass es als Gesamtlösung die beste Variante bietet, besser etwa als die Anwendung vom Dickschiff Specialized. Schumacher verweist auf die Erfahrung der Gründer im Sensorik-Segment der Automobilbranche. Von Anfang an wählte Tocsen daher den Ansatz, möglichst sensible Technik zu nutzen. Bis 200g (g=Erdbeschleunigung) misst der verbaute Sensor. Das sind nicht die günstigsten Sensoren, aber aus Schumachers Sicht eben notwendig, um ernsthafte Erkenntnisse über das Sturzgeschehen zu gewinnen. Neben der Sensorik ist wichtig, dass die Software die richtigen Schlüsse zieht. »Einen Alarm auszulösen, ist nicht das Problem«, sagt Schumacher, »das Problem ist, möglichst keinen Fehlalarm auszulösen und zu verstehen, wann es kein gefährlicher Sturz war.« Denn die Technik gewinne nur an Akzeptanz, wenn sie nicht ständig falsche Alarme auslöse. Hier sind sich viele Experten einig: Am Helm lassen sich solche Erkenntnisse weitaus besser gewinnen als etwa mit der Smartwatch oder am Radcomputer.

Tocsen bietet diese selbst entwickelte Technik auf zwei Wegen an. Zum einen gibt es die Sensorik als »Retrofit«. Zum Verkaufspreis von knapp 80 Euro erhalten die Kunden den runden Sensor mit Tocsens Wikinger-Logo, der sich auf Helmen anbringen lässt. »Es ist ein robustes, verlässliches Produkt ohne Abomodell, man kann es nachrüsten und es bleibt dank Updates auf dem neuesten Stand«, fasst Christian Mai zusammen. Alle Kunden haben Zugriff auf die Tocsen-Rettungs-App und werden Teil der Community. Wer mit angeschalteter App in einem Radius von drei Kilometern um einen anderen Kunden in Not ist, erhält über die App auch das Alarmsignal. Diesen Aspekt treibt Tocsen systematisch voran, aktuell seien etwa 30.000 Menschen Mitglied dieser Rettungsplattform. Damit das zum flächendeckenden Sicherheits-Feature wird, muss natürlich noch einiges passieren.

OEM-Geschäft als Wachstumstreiber

»Wir sind ein Systemanbieter, an den sich Hersteller und darüber wiederum viele Menschen anbinden können«, erklärt Gründe Alexander Schumacher die Entwicklung des Unternehmens. So ist auch der zweite Vertriebsweg der Technik der langfristig vielversprechendere, nämlich unter dem Schlagwort OEM. Uvex war 2020 der erste namhafte Helmproduzent, der mit den Freiburgern einen Deal schloss. Bis dahin hatte Tocsen etwa 10.000 Sensoren produziert, nun musste das Geschäft »auf ein neues Level gehoben werden«, wie Head of Growth Mai sagt. Der Ansatz, der sich inzwischen im Handel zeigt: Die Sensorik wird im Drehrädchen für die Größeneinstellung der Helme verbaut. Doch als das Geschäft mit Uvex richtig losging, kam bald darauf auch die Lieferkettenproblematik bei Halbleitern zutage. »Auf einmal standen wir mit Apple in Konkurrenz um Halbleiter«, sagt Schumacher, das Wachstum stagnierte. »Das war ein schwieriger Punkt. Wir hatten Nachfrage, aber nur ein Produkt und konnten nur tröpfchenweise liefern«, sagt Mai. Aber in der Krise entwickelte das Team weiter an der App und stellte auch die eigene Produktion um.

Wichtig ist bei Tocsen aktuell der Ansatz »Made in Germany«. »Man braucht entweder viel Kapital oder kurze Wege«, beschreibt es Co-Founder Schumacher. Im Keller des Freiburger Büros montieren Studenten immer noch die Retrofits, dort werden Prototypen gebaut. Die Platinen für die Sensorik bestückt das mittelständische Unternehmen Hekatron, bekannt als Spezialist für Brandmelder. Das Werk in Sulzburg ist per Fahrrad zu erreichen. Die Produktionslinie hat das Freiburger Team spezifiziert. »Wenn wir etwas ändern müssen, ist es gut, dass wir direkt um die Ecke sind«, sagt Schumacher. Beim Verpacken und Versand der Ware setzt Tocsen auf eine lokale Partnerschaft mit der Caritas.
Das kleine Team im Badischen sieht sich als »First Mover« und ist deshalb überzeugt, dass es im Geschäft mit der Sicherheitssensorik künftig eine größere Rolle spielen wird. 100.000 Sensoren habe man bisher abgesetzt, den Umsatz benennt man nicht.

Theo Fehrenbach, der die Öffentlichkeitsarbeit verantwortet, verweist auf einen interessierten Besucher, der bislang jedes Mal bei der Eurobike am Stand von Tocsen vorbeigeschaut habe: der CEO von Mips. So etwas wie Mips für die Crash-Detection und Alarmierung zu werden, mit dieser Fantasie kann sich auch Gründer Schumacher gut anfreunden. Allerdings ist der Weg noch weit, aber immerhin steht der Freiburger Markenname im Modell »Stan Mips/Tocsen« von Alpina schon einmal prominent an der Seite des schwedischen Erfolgsunternehmens.
Es ist noch eine Strecke, um im Handel eine größere Rolle zu spielen. »Man muss klar sagen, dass Radhändler keine Helmhändler sind«, sagt Christian Mai. »Andere Themen, etwa die Finanzierung und E-Antriebe, stehen da im Fokus.« Allerdings sieht man bei Tocsen sehr wohl die Chance, auch im Handel zum größeren Thema zu werden, gerade bei innovationsbegeisterten Einzelhändlern. Der Sensor wird dann nicht so sehr als Mitnahmeartikel eine Position haben, sondern als klares Sicherheitsversprechen im Umfeld des Rad- und Helmverkaufs. »Wir bieten bei der Sicherheit ein klares Differenzierungsmerkmal für hochpreisige Helme«, sagt Mai, »und auch das Nachrüst-Set eignet sich sehr gut etwa für Promotionen beim Thema Sicherheit im Handel.« In diesem Szenario ist der Sensor ein Sicherheitsartikel, den Händler beim Verkauf von E-Bike und Helm dem Kunden im Paket noch dazugeben. »Wichtig ist, dass sich die Wertigkeit dieses Artikels zeigt. Es ist eben nicht nur ein Stück Plastik, sondern bietet Zugang zu einer einzigartigen, internetbasierten Sicherheitslösung«, sagt Mai. //

»Passiert da etwas, kann dies zu Tragödien führen.«

Interview mit Dirk Zedler, Fahrrad-Sachverständiger

Herr Zedler, kleine Sensoren und mobile Applikationen versprechen Sicherheit im Radverkehr. An welchen Stellen erkennen Sie schon heute sinnvolle Ansätze für sichereres Radfahren?

Zwei Themen treiben die meisten Radfahrer um: Sicherheit im Verkehr und Diebstahlvermeidung. Abbiegeunfälle mit Lkws, Linksabbieger-Gegenverkehr- und Auffahrunfälle können durch Konnektivität vermieden werden. Wenn Fahrzeuge vernetzt werden, können die Fahrer potenziell gefährdender Fahrzeuge direkt, z. B. durch ein Ton- und Leuchtsignal, gewarnt werden. Fahrraddiebstahl wird unattraktiver, wenn der Standort des Fahrrades jederzeit nachvollziehbar ist. Solche Sensoren sind schon erhältlich. Bei sportlicher Nutzung, insbesondere bei Mountainbikern, besteht Sturzgefahr bei Alleinfahrt. Passiert da etwas und es kommt nicht zufällig Hilfe vorbei, kann dies zu
Tragödien führen. Sensoren erkennen Stürze und können Hilfe rufen.

Auf welche technischen Hilfen zur Verkehrssicherheit sollten Händler ihre Kunden sinnvollerweise hin beraten?

Radfahrer zählen wegen der schmalen Silhouette zu den gefährdeten Gruppen im Verkehr. Nahezu alle (Kraft-)Fahrzeuge haben zudem Dauerlicht, nur das Fahrrad äußerst selten. Daher sollte bei Elektrorädern, Trekking- und Citybikes Tagfahrlicht der Standard sein oder nachgerüstet werden. Auch für Sportfahrräder gibt es beim Zubehör schöne Lichtlösungen mit Akkus. Beim Helmkauf sollten Modelle mit Sturzsensorik und Meldemodul in Betracht gezogen werden. Diese Sicherheitseinrichtung kann auch nachgerüstet werden.

Welche Rolle spielt neue Technik beim Sicherheitsthema Licht?

Schon für schmales Geld gibt es zierliche Akku-Rücklichter, in denen Beschleunigungssensoren Bremsvorgänge erkennen und ein Licht hell leuchtet. Die Premiumbauteile sind in Kombination mit Navigationsgeräten so weit, dass diese sich von hinten annähernde Fahrzeuge erkennen
und Licht anschalten.

Erwarten Sie, dass Sicherheitssysteme wie ABS bald am Fahrrad flächendeckend Einzug halten?

Sehr viele Radunfälle könnten vermieden werden, wenn der Radfahrer in der Lage wäre, optimal zu bremsen. Auch bei Radunfällen, bei denen der Fahrer vorne überbremst und sich überschlägt, wäre ABS die Lösung. Hoffentlich erreicht die neue, kleinere Generation eine wesentlich bessere Marktdurchdringung als die erste, klobige Variante. Irgendwann wird ABS zumindest bei E-Bikes Standard sein.

24. Oktober 2022 von Tim Farin
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