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Was Best Agern gefällt,  behagt auch Jüngeren
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Schulung - Best Ager

Was Best Agern gefällt, behagt auch Jüngeren

E-Bikes sind etwas für Seniorenradler. Lange war dies ein gängiges Statement, das zuweilen sogar etwas spöttisch daherkam. Heute schielen auch junge Mountainbiker nach den dort verbauten Hilfsmotoren. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Generationen vielleicht doch nicht so weit auseinanderliegen, wie oft gedacht, ist ein Qualitätszeichen, das Best Ager in das Geschäft locken soll, ohne andere auszuschließen: Das »Generationenfreundliche Einkaufen« spannt deshalb den Bogen weiter als der einengende Begriff der Best Ager. Ausgegeben wird es vom Handelsverband Deutschland (HDE).

Was Best Agern gefällt,  behagt auch JüngerenBei einer Tasse Kaffee die Angebote studieren oder sich überlegen, was für den Fahrradurlaub noch wichtig sein könnte, macht in dieser Atmosphäre nicht nur älteren Kunden mehr Spaß.

Die Zielgruppe 50plus gibt es gar nicht, so wie es auch den Verbraucher nicht gibt. 50plus reicht vom noch berufstätigen Best Ager über das agile Rentnerpaar bis hin zur alleinstehenden älteren Frau hart an der Armutsgrenze«, sagt Dr. Wolfgang Adlwarth vom Marktforschungsinstitut GfK in einem Interview, das er für das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gegeben hat.
Und trotzdem geben folgende Zahlen zu denken: Im Jahr 2012 soll jeder zweite Euro des privaten Konsums von Kundinnen und Kunden über 50 Jahren ausgegeben worden sein. 2007 meldete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass allein die Altersgruppe der über 60-Jährigen über eine Kaufkraft von 316 Milliarden Euro verfügt. Bis 2030 sollen es 413 Milliarden sein.
Für den Fahrradfachhandel ist auch die Bedürfnispalette, die älteren Kunden nachgesagt wird, von hohem Interesse. Wenn nicht er, wer dann, kann deren Verlangen nach Gesundheit und Fitness, Sicherheit, Selbstständigkeit, Mobilität, Partizipation und Genuss besser stillen?

Politik und HDE unterstützen den Handel

Diese positive Ausgangslage nahm der Handel anfangs nur am Rande wahr. Seit 2008 unterstützen ihn die beiden genannten Bundesministerien durch die Initiative »Wirtschaftsfaktor Alter« darin, auf den veränderten Markt zu reagieren. Zusammen mit dem HDE und Partnern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Verbraucherverbänden entwickelten sie 2010 das Qualitätszeichen »Generationenfreundliches Einkaufen«. Das gut sichtbare Logo soll Kunden zeigen, wo sie besonders komfortabel einkaufen können.
Roman Heim, Verkaufsleiter in der Hild-Radwelt in Freiburg im Breisgau erzählt, wie er 2014 darauf kam, sich um das Qualitätszeichen zu bemühen, mit dem er nun in der Gegend ein Alleinstellungsmerkmal hält: »Unser Betrieb und unser Produktangebot war schon immer familienfreundlich ausgerichtet. In der Freiburger Innenstadt sah ich dann an Geschäften anderer Branchen das Logo ›Generationenfreundliches Einkaufen‹. Nachdem unsere Ausgangslage dafür sehr gut war, kam ich auf die Idee, dass auch wir uns darum bewerben könnten.«
»Bis Ende des Jahres 2015 konnten wir deutschlandweit im Durchschnitt jede Woche 32 Zertifizierungen vornehmen«, berichtet Wilfried Malcher, HDE-Geschäftsführer, von der Verbreitung des Qualitätszeichens. Mitte dieses Jahres gab es bundesweit bereits 10.389 zertifizierte Handelsunternehmen.
Wer die damit verbundenen Prüf-kriterien erfüllt, erhält das Qualitätszeichen für drei Jahre. Möchte man es danach weiter verwenden, ist eine erneute Prüfung notwendig. Umsonst gibt es die Zertifizierung nicht. Die Kosten sind aber moderat und nach Verkaufsfläche gestaffelt.

Nicht jeder erhält das Qualitätszeichen

Selbstaussagen zu den Prüfkriterien reichen für den Erhalt der Zertifizierung nicht aus. Prüfer checken anhand von sieben Kategorien (Erreichbarkeit des Geschäftes, Mitarbeiter/Servicequalität, Eingang zum Geschäft, Ladengestaltung, Sortimentsgestaltung, Service, Kasse) und 63 Kriterien, ob ein Geschäft das Siegel bekommt. Andreas Raiser, Inhaber der RadLust in Göppingen, ist seit Juni 2015 dabei und hatte Glück: Er musste keine baulichen Veränderungen vornehmen und auch das Portfolio blieb grundsätzlich das gleiche – mit einer Ausnahme: Momentan bietet er keine Kinderräder an, da er sich nach Abwägung dafür entschieden hat, sich bei der Kundenansprache lieber auf die Generation 50plus zu fokussieren.

Bauliche Maßnahmen sind das eine …

In Freiburg war es nicht ganz so einfach. Eine geschickte Planung hielt den Aufwand aber in Grenzen: »2014 legten wir aus Platzgründen unsere beiden Welten – die Rad- und die Nähwelt – außerhalb von Freiburg wieder in einem Gebäude zusammen. Wir führten also sowieso Um- und Anbauten durch. In dem Rahmen bauten wir auch einen Aufzug ein. Gleichzeitig konnten wir auch andere Maßnahmen in Angriff nehmen. Heute haben wir in unserem Geschäft breitere Wege, sodass es unsere Kunden auch mit Rollator oder Rollstuhl barrierefrei besuchen können. Aber auch unsere Markierungsstreifen an den letzten Stufen unserer Treppen brachten uns nur positives Feedback ein. Wenn man über die Bedürfnisse älterer Kunden nachdenkt, sind viele Maßnahmen einfach einleuchtend.«

… Marketing und Service das andere

Neben baulichen Veränderungen muss auch beim Marketing und bei den Produktinformationen sowie -auszeichnungen einiges beachtet werden: Diese müssen gut lesbar und verständlich sein – eine Vorgabe, die sich auch Hersteller zu Herzen nehmen sollten. Darüber hinaus sollten Verpackungen problemlos zu öffnen und zu schließen sein. Auch hier haben Händler nur geringe Spielräume; bei den eigenen Werbematerialien dafür umso mehr. Von Flyern, Schildern und Visitenkarten auf glänzendem Papier ist abzuraten, da diese nur schwer zu lesen sind. Und zwar nicht nur von Best Agern. Schon mit 40 Jahren lassen die Sehschärfe und das Empfindungsvermögen für Farben, vor allem bei Blau-/Grün-Tönen, bei den meisten Menschen nach. Verfasst der Händler all seine Werbematerialien in mindestens 12-Punkt- oder besser 14-Punkt-Schrift und vermeidet er eine helle Schrift auf dunklem Hintergrund sowie einen engen Buchstabenabstand, schätzen dies sicher auch seine jüngeren Kunden. Richtet sich ein Mailing oder ein Prospekt vornehmlich an ältere Kunden, sollte auch die Bildsprache der Kundenklientel angepasst sein. Lebensnahe Models und eine aufgeräumte Grafik sorgen für eine positive Ansprache.
Neben den grafischen Kriterien entscheidet natürlich auch der Inhalt, ob sich ältere Kunden gemeint fühlen: An Wunder glauben diese nur selten, dazu haben sie zu viel Lebenserfahrung, manchmal auch Misstrauen gesammelt. Mit sachgerechten Informationen kommt man dagegen weiter. Anglizismen, die im Marketing des Fahrradhandels einen hohen Stellenwert haben, lehnen viele ab, weil sie diese mit Marketingphrasen gleichsetzen.
Auch beim Service liegt viel in der Hand des Händlers: »Heute gibt es in unserem Geschäft auch Sitzgelegenheiten, ja sogar eine Lounge, in der wir Kaffee anbieten und wo sich unsere Kunden auch mal ausruhen können. Gut angenommen werden auch unsere kostenlosen Wasserspender«, berichtet Roman Heim von den neuen Angeboten in der Hild-Radwelt. Andreas Raiser von RadLust setzt auf eine spezielles Gutscheinsystem und Koopera-
tionen: »Unsere Gutscheine für eine kostenlose E-Bike-Probefahrt reduziert die Hemmschwelle, diese auszuprobieren. Außerdem arbeiten wir mit der AOK und einem Hotel zusammen, dem wir Leihräder für seine Gäste anbieten. Über ein Sponsoring eines Sportvereins erreichen wir weitere Kunden, die älteren insbesondere auch durch unsere Kooperation mit einem Orthopädie-Fachhandelsgeschäft.«
Synergien, die die Radwelt in Freiburg über die Zusammenlegung der beiden Welten Fahrrad und Nähmaschinen erreichte: »Es ist ja so – auch wenn es gerade einen Trend zu nähen gibt –, dass vor allem ältere Menschen und hier insbesondere Frauen die Nähwelt besuchen. Kommen die Männer mit, schlendern diese dann meist durch die Radwelt.«

Am Ende zählt der Mitarbeiter

Ältere Kunden verzeihen unprofessionelles Verhalten des Verkaufs- und Werkstattpersonals nur selten. Andreas Raiser aus Göppingen hat damit kein Problem. Er führt einen Ein-Mann-Betrieb, was zwar anstrengend, aber bei diesem Aspekt ein Vorteil ist, denn er weiß, wie man die ältere Zielgruppe zuvorkommend berät. Die Größe des Fachhandelsgeschäfts in Freiburg verlangt da nach anderen Maßnahmen. Die Geschäftsführung legt dort den Fokus auf Schulungen: »Das Thema ›Generationenfreundliches Einkaufen‹ hat auch Eingang in die Themenwelt unserer Hild-Akademie gefunden. In der Wintersaison besuchen unsere Mitarbeiter pro Woche drei Schulungen, in denen sie – neben vielen anderen Themen – auch lernen, welche Ansprüche ältere Zielgruppen haben und wie man diese zuvorkommend zufriedenstellen kann. Ein Beispiel: Sollte sich eine Kundin mit einer schweren Nähmaschine trotz Aufzug für unsere Treppe entscheiden, um in die Nähwelt zu kommen, sind alle unsere Mitarbeiter dazu angehalten, ihr die Nähmaschine abzunehmen und diese nach oben zu bringen. Es sind Kleinigkeiten, die die Kunden – gerade auch die älteren – dankend annehmen.«

9. Oktober 2016 von Dorothea Weniger
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