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XXL-Bikes diskriminierungsfrei verkaufen

XXL-Bikes diskriminierungsfrei verkaufen

Menschen mit Übergewicht sowie sehr große Menschen sind auf besonders ausgestattete Fahrräder angewiesen. Fällt Verkäuferinnen und Verkäufern das Verkaufsgespräch mit großen Kundinnen und Kunden noch relativ leicht, sind viele doch eher unsicher, wenn sie Menschen mit Übergewicht beraten sollen. Sie fürchten in die Falle der Diskriminierung zu tappen.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlicht auf seiner Homepage Zahlen zum Thema Übergewicht oder Adipositas und bezieht sich dabei auf die Jahre 2019/2020: Demnach seien 46,6 Prozent der Frauen und 60,5 Prozent der Männer nach eigenen Aussagen davon betroffen. Dabei gilt, dass bei Selbstangaben das »Körpergewicht im Vergleich zu standardisiert gemessenen Werten häufig unterschätzt, die Körpergröße dagegen eher überschätzt« wird, so das RKI weiter.
Auch viele Kinder und Jugendliche wiegen zu viel. Eine Langzeitstudie zu ihrer Gesundheit ergab für die Jahre 2014 bis 2017 folgende Werte: 9,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren sind übergewichtig, 5,9 Prozent adipös. Dennoch präsentiert sich die Fahrradbranche immer noch als vor allem sportaffine Branche.
»Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Körpermasseindex, der sogenannte Body Mass Index (BMI). Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m²)«, hält die Deutsche-Adipositas-Gesellschaft fest. Bei einem BMI von 25 bis 29,9 kg/m² spricht man von Übergewicht, ab einem BMI von 30 von Adipositas, mit gesundheitlichen Folgen: So warnt das Bundesministerium für Gesundheit vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Gelenkproblemen und Depressionen. Ministerium und Krankenkassen raten deshalb Menschen mit Übergewicht dringend, sich neben Therapien auch zu bewegen. Fahrradfahren sei optimal für eine körperschonende Gewichtsreduzierung beziehungsweise Vorbeugung vor einer weiteren Gewichtszunahme.
Trotzdem bieten nur relativ wenige Fahrradhersteller wie QiO, i:SY, Kettler, Hercules, Riese & Müller, Bergamont, Giant, Stevens, LIV oder Kalkhoff entsprechende Modelle an, die im Namen oft den Zusatz »XXL« oder »Strong« tragen. Die meisten davon sind auf maximal 180 Kilogramm Gesamtgewicht ausgelegt, wobei man darunter das Gewicht des Fahrrads, plus das der Bikerin oder des Bikers sowie das Gewicht der Zuladung versteht. Daraus folgt auch, »dass bei einer zusätzlichen Beladung durch Taschen oder Kindersitze auch eine untergewichtige Person ein Bike für den Schwerlastbetrieb benötigt«, erklärt der Pressesprecher von Kettler Alu-Rad. Bei Überschreiten des zulässigen Gesamtgewichts drohen aufgrund der Stoß- und Zugkräfte Instabilität bis hin zu Materialbrüchen.
Um im Verkaufsgespräch gegenüber Menschen mit Übergewicht den richtigen Ton zu treffen, sind besonders die Phasen Vorbereitung, Bedarfsanalyse und Warenpräsentation entscheidend. Dabei sollte der Fokus immer darauf liegen, eine respektvolle und einfühlsame Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Gleichzeitig sollte sich der Verkauf darüber bewusst sein, dass diese Zielgruppe keine homogene Gruppe ist. Die einen sind schüchtern, andere öffnen selbstbewusst die Ladentür. Die einen sind mit ihrem Gewicht zufrieden, andere möchten es reduzieren oder das reduzierte Gewicht halten. Die einen suchen nach einer Herausforderung, andere möchten ihren Köper trainieren oder einfach nur Fahrrad fahren, um Spaß zu haben. Das sind individuelle Bedürfnisse und Ziele, die mit dem Gewicht nichts zu tun haben müssen.

Die Vorbereitungsphase

Verkäuferinnen und Verkäufer sollten sich am besten im Team schon vorab Gedanken über diese Zielgruppe machen, um sich ein differenzierteres Bild zu erarbeiten. »Stereotype und Falschinformationen wie beispielsweise ›Die sind doch alle faul und müssen nur mal mehr Sport treiben oder weniger essen!‹ sollten idealerweise bekannt sein und nicht reproduziert werden«, erklärt Dr. Michélle Möhring. Sie arbeitet auf dem Fachgebiet Strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität (TU) Dortmund und forscht dort unter anderem zu Bedingungsfaktoren für die Stigmatisierung von vulnerablen Personengruppen sowie zum Abbau von Stigmatisierung durch Kommunikation.

»Von Diskriminierung spricht man, wenn eine Kundin oder ein Kunde aufgrund eines Merkmals – hier aufgrund des Gewichts – anders als andere behandelt wird.«

Dr. Michélle Möhring, Technische Universität (TU) Dortmund

Es gilt als erwiesen, dass biologische, genetische, sozioökonomische, individuelle und kulturelle Aspekte die Ursache für Übergewicht sind, das heute als chronische Krankheit gilt. »Grundsätzlich wäre es also wünschenswert, wenn Händlerinnen und Händler beziehungsweise das Verkaufspersonal ein Bewusstsein dafür hätten, dass es sich bei der Zielgruppe um eine höchst vulnerable und stark stigmatisierte Personengruppe handelt«, meint Möhring. Für den Handel dürfte schon ganz schlicht der Umstand genügen, dass diskriminierendes Verhalten den Verkaufserfolg behindert.
Doch wo fängt eigentlich Diskriminierung an? Als Richtschnur kann gelten: Das entscheidet der Mensch, der potenziell davon betroffen ist – auch beim Kauf eines Fahrrades. Hören Verkäuferinnen und Verkäufer genau hin, wie das Gegenüber über sich, sein Gewicht und seine Bedürfnisse spricht, können sie erkennen, wie sie selbst darüber sprechen sollten. Sprachliche Nuancen können dabei entscheidend sein. Ein Beispiel: In diesem Artikel heißt es zumeist »Menschen mit Übergewicht« und nicht »übergewichtige Menschen«. Kein Zufall, sondern das Ergebnis der Recherche. So heißt es im Medienleitfaden der Deutschen Adipositas Gesellschaft: »Statt ›Es gibt viele Übergewichtige / übergewichtige Menschen‹ besser ›Es gibt viele Menschen mit Übergewicht‹. Der Unterschied: Im ersten Fall werden die Betroffenen durch ihr Übergewicht definiert, im zweiten Fall ist das Übergewicht nur eins von vielen Merkmalen dieser Personen.« Auch Möhring von der TU Dortmund plädiert für diese Sichtweise: »Da es sich, wie bereits erwähnt, um eine vulnerable und stark stigmatisierte Personengruppe handelt, sollte man sich über eine stigmasensible Kommunikation Gedanken machen. Es wäre wichtig, Personen nicht nur vor dem Hintergrund ihres Übergewichts zu betrachten, sondern als Individuen mit individuellen Vorlieben und Erfahrungen wahrzunehmen, die ein passendes Fahrrad brauchen. Menschen sind unterschiedlich und jede Person verdient eine individuelle und möglichst vorurteilsfreien Beratung. Eine grundsätzliche Sensibilität für Stigmata und Reflexion der eigenen Kommunikation können bereits viel bewirken.«
Zuletzt sollte sich das Verkaufs-team schon vorab mit für die Zielgruppe geeigneten Bike-Modellen und ihren Spezifikationen vertraut machen. Dies gilt auch für die Bekleidung und das Zubehör.

Bedarfsanalyse

Der Pressesprecher von Kettler Alu-Rad rät jedem Verkaufspersonal bei einem Vier-Augen-Beratungsgespräch, das die Privatsphäre schützt, immer auch den Hintergrund für die eigenen Fragen zu erklären. So sei die korrekte Interpretation des zulässigen Gesamtgewichts besonders wichtig, weil aufseiten der Kundinnen und Kunden hier häufig Missverständnisse vorliegen. »Eine Aufklärung durch den qualifizierten Fachhändler ist demnach dringend zu empfehlen«, so der Pressesprecher weiter. Dabei ist auch wichtig, ob ein E-Bike oder ein Fahrrad ohne E-Motor gewünscht wird. E-Bikes erleichtern zwar den Einstieg in das Fahrradfahren, nicht motorisierte Fahrräder machen aber einen geringeren Anteil am zulässigen Gesamtgewicht aus.
Bezüglich der Kundenansprache bei der Bedarfsanalyse rät Michélle Möhring: »Aus kommunikations- und rehabilitationswissenschaftlicher Sicht raten wir generell eher von Formulierungen wie ›Menschen mit Ihrem Gewicht schätzen an dem Fahrrad‹, ›Übergewichtige Menschen schätzen an dem Fahrrad‹ oder ›Mit ihrem Gewicht brauchen sie ein Fahrrad‹ ab. Das Übergewicht muss nicht prominent thematisiert werden, da sich die Menschen ihres Gewichts bewusst sind. Besser wären neutrale Formulierungen wie ›Bei der Wahl eines Fahrrads spielen X, Y und Z eine Rolle. Was ist Ihnen bezüglich X wichtig?› oder ›Aus unserer Erfahrung empfehlen wir Modelle der Gewichtsklasse XXL‹ oder ›Wir würden zu einem XXL-Modell raten, das sehr stabil und gut belastbar ist.‹ Ziel sollte die Offenheit darüber sein, dass sich Menschen selbst einschätzen können.«

Übergewicht ist heute weit verbreitet. Entsprechend groß ist die Zielgruppe für den Fahrradfachhandel. Daher lohnt es sich, das bestmögliche Angebot für diese Menschen bereitzustellen, sowohl beim Produkt als auch bei der Beratung.

Wichtig sei, Fakten, Zahlen und wichtige Kriterien zu benennen und die Person dann dazu aufzufordern, sich selbst einzuschätzen. Möhring hat auch dazu Beispiele: »›Auf einer Skala von 1 bis 5 – wie würden Sie Ihren eigenen Gesundheitszustand beschreiben?‹ oder ›Welche Anforderungen (Varianten nennen) sollte Ihr Fahrrad erfüllen?‹ oder ›Es gibt die Herausforderungen X, Y, Z – welche sind für Sie relevant?‹ oder ›Es gibt zwei Varianten des Einstiegs, einen tiefen – der leichter ist – und einen höheren. Welche Variante wäre Ihnen lieber?‹« Im Kern handelt es sich um eine Bedarfsabklärung, wie sie in jedem Verkaufsgespräch notwendig ist.

Warenpräsentation

Hersteller von Fahrrädern für Menschen mit Übergewicht nutzen verschiedene Bezeichnungen für diese Modelle. Häufig sind Bezeichnungen als XXL-, Strong-, Plus-Size- oder HD-Fahrräder (»heavy duty«). Die meisten von ihnen sind für ein Gesamtgewicht bis 180 Kilogramm ausgelegt. Typische Spezifikationen sind: ein verstärkter Rahmen für mehr Festigkeit und Steifigkeit zur Vermeidung von Materialbrüchen. Ausreichende Dimensionierungen an der (Feder-)Gabel, am Lenker und Vorbau, an der Sattelstütze, an den Felgen und Speichen sind ebenso wichtig. Weitere Besonderheiten betreffen Sattel, Reifen, Schlauch, Pedalkörper und Tretlager. Zudem sind die Bremsen stärker und beim E-Bike der Motor leistungsstärker ausgelegt. Diese Merkmale sollten die Basis des Verkaufsgesprächs sein. »Dieses Fahrrad passt gut zu den Kriterien, die wir soeben besprochen haben beziehungsweise die Ihnen zuvor wichtig waren«, wäre laut Möhring eine gute Variante, um am Thema zu bleiben, ohne das Gewicht in den Fokus zu rücken.
Eine Körpervermessung ist bei Menschen mit Übergewicht – wie bei allen anderen auch – zu empfehlen, da ein ergonomisch angepasstes Fahrrad Schmerzen, einer falschen Haltung und muskulären Problemen vorbeugt. »Grundsätzlich sollten allerdings nicht nur übergewichtige, sondern alle Menschen vorab gefragt werden, ob eine solche Vermessung für sie in Ordnung ist«, schränkt Möhring ein.
Mit einer Testfahrt schließt die Warenpräsentation in aller Regel ab. Passt das ausgesuchte Modell nicht, sollte unbedingt vermieden werden, dass die Kundin oder der Kunde denkt, es läge an ihr oder ihm. Es ist das Bike-Modell, das noch nicht das richtige war!

Nachbereitung

Fühlen sich Mitarbeitende weiterhin unsicher, sollten ihnen Händlerinnen und Händler eine Schulung anbieten. Das geschulte Team kann dann vielleicht auch Schaufenster, Flyer und weitere Angebote diversitätsgerecht gestalten. Tourenangebote, die auch für andere geöffnet sein sollten, fördern die Bildung einer Community. Wer sensibel, empathisch, vorurteilsfrei und auf Augenhöhe agiert, gilt schnell als vertrauensvolle Ansprechstelle.
Zuletzt noch ein Hinweis für Händlerinnen und Händler in Nordrhein-Westfalen: Am 20. September 2025 findet in Dinslaken der 4. NRW-Adipositastag statt. Neben Veranstaltungen gibt es auch eine Ausstellungsfläche, auf der Fahrradhändlerinnen und -händler zu ihren Fahrrädern beraten können. Wer Interesse hat, sollte sich bei Christel Moll, der ersten Vorsitzenden des Adipositas-Verbandes Deutschland, melden ( moll@adipositasverband.de ). //

21. Februar 2025 von Dorothea Weniger
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