10 Minuten Lesedauer
i

Standpunkt - Nachhaltigkeitskritik

Zwischen Sinn und Unsinn

Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Praktisch kein Unternehmen ver-
zichtet heute darauf, auf die eigenen
Anstrengungen in diesem Bereich hinzuweisen. Doch das Thema ist vielschichtig, entsprechend kompliziert und oft genug sind vermeint-liche Fortschritte fragwürdig.

Wenn über Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit gesprochen wird, dann wird meist vorausgesetzt, dass alle genau wissen, was »Nachhaltigkeit« überhaupt ist. Schon diese Annahme ist in der Regel unbegründet. Es scheitert bereits daran, dass es keine verbindliche Definition gibt, was darunter zu verstehen ist. »Keine verbindliche Definition« ist natürlich etwas anderes als ein völlig unklarer Begriff. Es gibt jede Menge verschiedene Erklärungsversuche, um das Prinzip Nachhaltigkeit zu erklären. Eines der Probleme besteht darin, dass diese Erklärungen mitunter sehr verschiedene Sachverhalte angehen wollen und schnell sehr ausufernd geraten.
Die Grundidee ist zunächst einfach zu verstehen und einleuchtend. In der kürzesten Form bezieht sich Nachhaltigkeit auf einen Gedanken, der zuerst in der Forstwirtschaft formuliert wurde: Nur so viel Holz zu schlagen, wie auf natürliche Weise wieder nachwächst, damit der Wald als Ganzes erhalten bleibt. Das Gesamtsystem soll nie so weit strapaziert werden, dass es zusammenbricht.
Auf das große Ganze gezogen wird heute gerne von »enkelgerechtem Handeln« gesprochen. Die Welt soll ihre aktuellen Bedürfnisse befriedigen, ohne diese Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung für spätere Generationen zu zerstören. Diese Formulierung entspricht etwa der Definition, wie sie von den Vereinten Nationen 1987 im Brundtland-Bericht formuliert wurde.
Der Mensch als komplexes Wesen hat zahlreiche Bedürfnisse, die allesamt befriedigt werden wollen. Insgesamt 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung zählen die Vereinten Nationen in ihrer Agenda 2030 auf. Dazu gehören grundlegende Ziele wie keine Armut, kein Hunger, sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen, Geschlechtergleichheit ebenso wie menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, Industrie und Innovation oder nachhaltiger Konsum und Produktion. Spätestens hier ist der Nachhaltigkeitsbegriff zu einem komplexen Gemenge von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Themen verwoben, die sich wechselseitig beeinflussen und auch widersprechen. Diese doch zu vereinen ist keine leichte Aufgabe und wird oft genug auch konterkariert. An dieser Stelle beginnen die vielen Punkte, die Nachhaltigkeit in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen. Es kommen unterschiedliche Interessenlagen zum Tragen.

Nachhaltigkeit als Verkaufsförderungsmaßnahme

Ein grundsätzliches Problem entsteht etwa dann, wenn sich Unternehmen zu mehr Nachhaltigkeit verpflichten, mit dem eigentlichen Ziel, damit ihre eigenen Umsätze zu steigern. Hier taucht das Dilemma auf, dass das eigene Tun zwar pro Produkt weniger umweltbelastend ist als beim Wettbewerb, der Ressourcenverbrauch insgesamt aber trotzdem steigt. Immerhin könnte in dieser Situation ein schlechteres Produkt substituiert werden. Ein solches Ergebnis wäre positiv, ist aber nicht automatisch die Regel.
Anders verhält es sich, wenn Unternehmen ihr Nachhaltigkeitsversprechen nicht ganz so ernst nehmen. Es wurde schon häufig festgestellt, dass viele Nachhaltigkeitsmaßnahmen nicht unbedingt zu erstrebenswerten Resultaten führen. Mehr noch, oft genug sind sie reine Augenwischerei. Es beginnt bei den Euphemismen der PR-Abteilungen bei Großemittenten („Respecting Nature“, Shell) und führt etwa zum CO2-Zertifikatehandel, der außer einem finanziellen Beitrag keine praktischen Auswirkungen auf tatsächliche Schadstoffausstöße hat. Andere Unternehmen rechnen sich nachhaltig, indem sie CO2-Kompensationen einkaufen, etwa in Form von Aufforstungen, aber ansonsten keine Maßnahmen treffen, das eigene Wirtschaften zu verändern. Verkauft wird dieser Kuhhandel dann als »klima-neutral«. Das Bäumepflanzen in fernen Ländern wird auch deswegen kritisiert, weil es dortige Entwicklungsmöglichkeiten beschneidet. Jörg Sommer von der Deutschen Umweltstiftung nennt das Beispiel, dass Kleinbauern auf Madagaskar keine Landwirtschaftsflächen mehr finden, weil diese Flächen im Auftrag der Industrienationen aufgeforstet werden, und nennt dies »Öko-Imperialismus«.
Es gibt noch zahllose andere Auffälligkeiten rund um den Themenkomplex Nachhaltigkeit. Aufhorchen sollte man auch, wenn die zu erreichenden Nachhaltigkeitsziele in ferner Zukunft liegen. Wenn etwa ein auf wenige Jahre gewählter Politiker Ziele für 2030, 2050 oder gar 2070 formuliert, wie es der indische Premierminister auf der letzten Klimakonferenz tat, dann muss man schon ganz genau hinhören und hinschauen, ob diese Person das wirklich ernst meint. Immerhin wird bei Zielsetzungen in der Mitte des Jahrhunderts kaum eine dieser Personen in ihrer Karriere jemals Rechenschaft ablegen müssen, ob eines dieser Ziele erreicht wurde.

»Enkelgerechtes Handeln« ist eine gerne genommene Definition für Nachhaltigkeit. In wirtschaftlichen Zusammenhängen ist es aber meist etwas komplizierter, zu erklären, wie nachhaltiges Handeln sinnvoll aussieht.

Auch sollte man sich stets vor Augen halten, dass »Ziele« etwas anderes sind als »Maßnahmen«. Sehr viele Menschen formulieren in ihrem Leben einmal das Ziel, Millionär zu werden. Nur wenige ergreifen deswegen auch nur die geringsten Maßnahmen, mit denen dieses Ziel ansatzweise zu erreichen wäre. Das Themenfeld Greenwashing ist damit gerade mal angerissen. Tatsächlich gibt es noch unzählige fragwürdige Entwicklungen in den verschiedensten Branchen.
Diese Wahrnehmung, dass hier eine Diskrepanz besteht, sorgt dafür, dass einige Klimaaktivisten und -aktivistinnen inzwischen zynisch wirken, desillusioniert von der Kluft zwischen den warmen Worten der Entscheider und ihren kalten Entscheidungen. Dazu gehört auch Greta Thunberg. Sie kanzelte noch vor Abschluss der Klimakonferenz in Glasgow 2021 das dortige Tun mit den Worten „Das ist alles nur bla, bla« ab. Selbst wenn man der Politik nicht den größten Nachdruck in Sachen Nachhaltigkeit zusprechen möchte, gibt es viele Unternehmen, die das Thema ernstnehmen. Sie sind derzeit die eigentlichen Treiber des Wandels. Immerhin empfinden es viele als sinnstiftend, wenn man für sich sagen kann, die eigene Arbeit verbessere die Welt. Dass solche Unternehmen nicht die Regel sind, hat allerdings ebenfalls Gründe.

Waschen, aber bitte nicht nass machen

Auf der anderen Seite der Gleichung stehen die Verbraucher. Man liest immer wieder von Untersuchungen und Studien, in denen bestätigt wird, dass »immer mehr« Menschen Wert auf Nachhaltigkeit legen. Ob im Straßenverkehr und auf Reisen, bei der Ernährung oder im Konsumverhalten: Wenn man danach fragt, erklären inzwischen bemerkenswert große Menschengruppen ihr Bewusstsein für ökologische Fragen. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass ihre geäußerten Vorlieben sich bislang nicht mit den tatsächlichen Marktverhältnissen decken. Wir wollen gerne nachhaltiger leben, aber das bedeutet nicht automatisch, dass wir deswegen unsere lieb gewonnenen, womöglich klimaschädlichen Gewohnheiten aufgeben. Das ist der Widerspruch, um den gerne herumgeeiert wird.

»Der Mensch hat viele Fähigkeiten, aber das größte Talent entwickelt er bei der Vernichtung der Natur.«

Rumi

Das macht die Verbraucher nicht zu moralisch fragwürdigen Kreaturen, sondern zeigt auf, welche Werte gesellschaftlich verankert sind und mit denen wir im Prinzip alle aufwachsen: Konsum ist gut, Geld ist knapp, man lebt nur einmal. Wir sind eine Konsumgesellschaft und daran wird nur zart gerüttelt. Das Wort »Verzicht« wird gerne im Munde geführt, solange man es nicht selbst machen muss.
Mit dieser Einstellung wird es natürlich schwer, eine Veränderung in Gang zu setzen, die nicht nur Symptome bekämpft, sondern Ursachen angeht. Man darf annehmen, dass es ein sehr langer Prozess sein wird, bevor die Menschheit zu einer nachhaltigen Lebensweise findet. »Der Mensch hat viele Fähigkeiten, aber das größte Talent entwickelt er bei der Vernichtung der Natur.« Dieses Zitat stammt von einem arabischen Mystiker namens Rumi. Der Satz klingt sehr aktuell, aber er äußerte ihn bereits im 13. Jahrhundert.


_Der globale Ausstoß an CO2 ist nur in Krisenzeiten wenigstens temporär gesunken. Selbst eine globale Pandemie sorgte nur für eine Delle. Die formulierten Klimaziele sind jedenfalls noch weit entfernt. Zur Erinnerung: Um die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, wurde auf der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 das Ziel formuliert, die Netto-Treibhausgasemissionen zwischen 2045 bis 2060 auf null zu senken. _

Immerhin eines hat sich verändert: Heute gibt es angesichts der schieren Anzahl von Menschen und ihrem nicht ernsthaft bestreitbaren Einfluss auf den Planeten dringenden Handlungsbedarf. Ob es der Menschheit gelingen wird, hoch genug zu springen, um über die Hürde Klimawandel zu kommen? Man weiß es nicht. Es sieht derzeit eher nicht danach aus. Es braucht schon eine veritable globale Pandemie, um die CO2-Ausstöße für ein Jahr merkbar zu senken. Für 2021 erwarten die Hochrechnungen ein Zurück zu den alten Höchstständen.

Übertriebene Erwartungen und ungenutzte Chancen

Dessen ungeachtet sind die Ansprüche an Unternehmen mitunter so weit hochgeschraubt, dass sie kaum zu erfüllen sind. Seltsam ist etwa die Vorstellung, dass das gesamte wirtschaftliche Handeln ohne Verbrauch von Rohstoffen möglich sein sollte. Es scheint die Auffassung zu bestehen, dass Waren und Produkte aus einer Idylle kommen müssten, die ganz und gar unschädlich ist. Das ist genauso abwegig und verkürzt wie die Vorstellung, die Wurst komme aus dem Kühlregal und der Strom aus der Steckdose – und das Fahrrad vom Händler, der es in seinem Keller gebacken hat. Auch auf dieser Seite gilt es, überzogene Erwartungshaltungen wieder einzufangen.
Es ist nüchtern betrachtet nach wie vor sehr schwer, »echte« Nachhaltigkeit umzusetzen. Sie kostet Geld, ist aufwendig und interessiert die Kundschaft oft nur oberflächlich. Aber für Unternehmen, die gerade wie in der Fahrradbranche mit ihren ökologischen und ökonomischen Vorzügen argumentieren, ändert das nichts. Es gibt keinen sinnvollen Weg zurück zur Umweltignoranz. Stattdessen gilt es für die Branche, die eigenen Stärken besser hervorzuheben, vorhandene Schwächen auszubessern und sich diesem Schabernack von Pseudo-Nachhaltigkeit zu entziehen. Es gibt riesige Unterschiede zwischen Branchen und Unternehmen im Hinblick auf ihre Anstrengungen, die Dimensionen ihrer Umweltbelastung und ihre Glaubwürdigkeit. In diesen starken Kontrasten kann das Fahrrad noch deutlicher mit seinen Vorzügen hervortreten.

10. Februar 2022 von Daniel Hrkac
Velobiz Plus
Die Kommentare sind nur
für unsere Abonnenten sichtbar.
Jahres-Abo
115 € pro Jahr
  • 12 Monate Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
  • 10 Ausgaben des exklusiven velobiz.de Magazins
Jetzt freischalten
30-Tage-Zugang
Einmalig 19 €
  • 30 Tage Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
Jetzt freischalten
Sie sind bereits Abonnent?
Zum Login