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Handel - Autohäuser

Autohändler schauen auf Mikromobilität

Autohäuser stehen unter Druck, und das nicht erst seit Corona. Warum sollte das einen Fahrradhändler interessieren? Weil sie immer häufiger einen Blick auf die aktuelle Form der Mikromobilität werfen.

Auto-Alternative von Bio-Hybrid

Auf den ersten Blick könnte man es erstaunlich finden, dass Corona den Autohäusern mehr zugesetzt haben sollte als dem Fahrradhandel: Beide Branchen haben durchgehend nach den gleichen Spielregeln gespielt. Sie waren zunächst beide bei den systemrelevanten Branchen, die ihre Werkstätten öffnen durften, aber den Verkauf einstellen mussten und auch beim Mobilitätsverhalten gehörten und gehören Pkw und Fahrrad zu den großen Gewinnern. Doch während die Fahrradbranche ein Rekordjahr in ihre Jahrbücher schreiben durfte, sieht sich der Automobilhandel keineswegs auf der Sonnenseite des Handels.
Die Zahl der Automobilverkäufe ist laut Kraftfahrt-Bundesamt vergangenes Jahr um 20 Prozent zurückgegangen, das neue Jahr startete auch nicht besser. Sollten die Lockerungen demnächst kommen, erwartet die Branche eine Erholung, sieht aber schon die nächsten Wolken am Horizont.

Alternativen zum Auto gesucht

Als ob es nicht genügen würde, dass die aktuellen Umsätze vielerorts eingebrochen sind, plagen die Autohäuser einige Zukunftssorgen. So trägt im Automobilhandel der Werkstattservice einen elementaren Anteil zur Rentabilität des Betriebs bei. Angesichts der Entwicklung hin zum elektrisch angetriebenen Automobil, das deutlich weniger Wartung benötigt als ein Verbrenner, erwarten sie in diesem Bereich künftig deutlich geringere Erlöse, als sie heute möglich sind. Zusammen mit vielen anderen Faktoren sehen sich heute also einige Autohäuser der schwierigen Frage gegenüber, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Um es klar zu sagen: Nicht alle Autohäuser sind im Krisenmodus. Es gibt auch große Vertragshäuser, die nach wie vor auf Wachstumskurs sind und auch die bisherige Pandemiephase nicht nur glimpflich, sondern mit einem Plus durchgestanden haben. Doch wer sich gedanklich von der Automobilwelt lösen kann, der schaut heute mit einem oder auch beiden Augen auf die Fahrradwelt.
In der letzten Zeit häufen sich die Meldungen, dass Autohäuser umsatteln auf den Fahrradhandel. Jüngstes Beispiel ist das Autohaus Freese & Müller in Nordenham-Atens, das nach 89 Jahren seine Pforten schließt, um als Fahrradladen neu zu eröffnen. Der Geschäftsführer bleibt der 51-jährige Martin Freese. Inzwischen hat das »MY E-Bike Center« am gleichen Standort geöffnet. Auf über 1000 Quadratmetern Verkaufsfläche werden nun, der Name verrät es, E-Bikes angeboten. Eine große Eröffnungsfeier steht coronabedingt noch aus.

Spannende Mobilitätslösungen

Dr. Christoph Golbeck verfolgt als Prokurist des Autohauses Golbeck in Berlin einen Ansatz, der noch eine Ebene über dem reinen Handel ansetzt. Er hat zusammen mit seinen Geschäftspartnern jüngst die Mobilitätshaus GmbH gegründet, ein intermodales Mobilitätshaus, das anderen Händlern den Weg in eine deutlich andere Zukunft aufzeigen will.
Ein kleiner Autohändler ist das Autohaus Golbeck schon jetzt nicht: 50 Mitarbeiter bringen in dem Familienbetrieb die Autos an den Mann und die Frau und halten sie in Schuss. Doch bereits jetzt werden die Weichen auf Transformation gestellt. Das Haus möchte den nächsten Schritt gehen mit einer wirtschaftlich getrennten Einheit, um auf die Verkehrswende einzugehen und sie mitzugestalten.
Bis zum Ende des Jahres 2021 soll der Umbau einer Niederlassung abgeschlossen sein. Dann sollen dort mit whitegelabelten Lösungen in einer digitalen Struktur und einem davon nicht zu lösenden Beratungsansatz andere Autohäuser und auch Start-ups ermächtigt werden, einen ähnlichen Weg zu gehen, um die Verkehrswende als Autohaus mitzugestalten. Klingt kompliziert? Gemeint ist, dass künftig eine vielfältigere Mobilität im Haus gezeigt werden soll. Damit reagiert Golbeck etwa auf die Entwicklung, dass junge Menschen heute seltener einen Führerschein machen, aber dennoch mobil sein wollen und müssen. Das Auto mag kein Statussymbol mehr sein, aber der Mobilitätsbedarf bleibt. Das schafft Raum für neue Ansätze. Das Fahrrad spielt dabei eine Rolle, aber nicht nur.
»Es geht um jede Form der Mobilität, um Ermächtigung zur Intermodalität«, erklärt er die künftige Produktpalette Auch Hybrid-Fahrzeuge wie der Loadster, die in einem Graubereich zwischen den etablierten Segmenten positioniert sind, werden berücksichtigt.
Das Konzept ist anspruchsvoll, steht doch das neue Mobilitätshaus auf insgesamt acht Säulen. So gibt es die Mobilitätsberatung B2C und B2B, den Verkauf und die Vermietung intermodaler Mobilitätslösungen, den Verkauf und die Reparatur von Mobilitätsprodukten, die Umstiegsberatung für Autohäuser und das Thema Co-Working. All diese Bereiche sollen in einer absehbaren Zukunft neue Erlösmöglichkeiten schaffen.

Wer kümmert sich um die neuen Fahrzeugsegmente? Autohäuser sehen sich prädestiniert für diese Aufgabe.

Händlerbetriebene Verleihflotten

Bereits jetzt arbeitet Golbeck daran, Wohnungsbaugesellschaften für neue Mobilitätslösungen zu gewinnen. Ein denkbares Szenario lautet, dass das Autohaus eine Flotte von 50 Fahrzeugen betreibt und wartet, die einem Wohnkomplex zur ständig verfügbaren Miete angeboten werden. »Es geht darum, anders mit Flächen umzugehen. Wie kann eine Wohnungsbaugenossenschaft helfen, Verkehr zu reduzieren? Wie kann sie Mietern einen Weg aufzeigen, dass sie kein eigenes Auto mehr benötigen?« Möglich werden soll das durch ein Angebot, das besser ist als die bisher vorhandenen Optionen. »Die exklusiv zu mietende Flotte besteht aus einem Mix von Fahrzeugen vom Dieseltransporter bis zum einspurigen Roller. Das ist viel attraktiver als etwa ein Passat Kombi im Privatbesitz.« Damit könnten letztlich auch Verkehre reduziert werden.

Ich glaube, es wird disruptiv sein

ist Golbeck überzeugt. Er geht davon aus, dass in fünf Jahren die Hälfte der Autohäuser aufgeben muss. Er möchte derjenige sein, den man anruft, um zu erfahren, was man machen kann, um den Konkurs zu vermeiden. Aktuell treiben viele Gründe den Automobilhandel in Probleme: Die Abschreibungen von Leasingrückläufern hätten in den vergangenen Jahren bereits einige Autohausgruppen in den Ruin geführt. Dazu kommen Änderungen beim gesamten Verkaufsmodell. So hat etwa Volkswagen teilweise auf ein Agenturmodell umgestellt. Der Händler verkauft nicht mehr Fahrzeuge, er liefert sie nur noch aus und erhält dafür eine Provision. Diese Umstellung sei so gravierend, dass dies den Automobilhandel umwälzen werde. Dazu kommt die genannte Wartungsarmut neuer Elek­trofahrzeuge. »Wir können ohne ordentliche Geschäfte in unserer Werkstatt nicht leben«, erklärt Golbeck diesen Punkt.
Der entscheidende Punkt sei, was die Dinosaurier Automobilhäuser zu einer Mobilitätswende beitragen können. Da ist Golbeck überzeugt, dass Autohäuser die wichtigsten, aber noch gar nicht wahrgenommenen Multiplikatoren sind, um Verkehrswende erlebbar zu machen. Vom einspurigen Fahrzeug bis zum Transporter könne alles aus einer Hand angeboten werden. Die Vermietung als Erlösquelle werde eine viel wichtigere Rolle spielen als bisher. Das Umsatzniveau werde mit kleineren Fahrzeugen allerdings ebenfalls eher kleiner. Das dürfte die bestehenden Häuser eher nicht begeistern.
Dass Fahrradhändler von der anderen Seite in diesen Tätigkeitsbereich vordringen, sieht Golbeck noch nicht. Bisher habe der Fahrradhandel noch kein gesteigertes Interesse gezeigt, ein solch vielfältiges Mobilitätsangebot zu machen.

Zukunft gestalten statt abwarten

Mit dieser Ausrichtung ist das Berliner Mobilitätshaus dann kein reiner Autohandel mehr. Beratung, Service und Verkauf orientieren sich an der bestmöglichen Lösung für die Kundschaft. In einem Flottenbetrieb etwa zielt die Mobilitätsberatung auf Reduktionspotenziale durch gemischte Fuhrparks ab. Gespart werden so Zeit, Geld und Emissionen. Das Autohaus bringt sich auf diesem Wege ins Spiel als ein Anbieter mit einem breiten Kompetenzspektrum. Ob Ridepooling, als Anbieter von Auto-, Fahrrad- oder Scooter-Sharing oder als konzeptioneller Berater für Kommunen, Immobilienentwickler oder Arbeitgeber, es bleibt künftig kaum ein modernes Mobilitätsfeld unbeackert. Das stellt natürlich auch hohe Anforderungen an die Mitarbeitenden, die für diese Aufgabe ihrerseits neue Kompetenzen aufbauen müssen.
Bei all diesen Zukunftsmöglichkeiten gilt es im Blick zu behalten, dass die meisten Automobilhäuser die Sicht von Golbeck noch nicht übernommen haben und bestenfalls in Ansätzen in diese Richtung überlegen. Angesichts der vorherrschenden Meinung im Autohandel fällt ihm mit seinen Thesen die Position des Vorreiters zu. Als Kaufmann ist ihm selbst klar, dass seinem Konzept vielleicht noch manche Anpassung bevorsteht. Auch die Erfolgsaussichten vermag er durchaus realistisch einzuschätzen: »Das, was ich hier skizziere, ist betriebswirtschaftlich, vorsichtig gesagt, ein ziemlich gewagtes Unterfangen. Wir bewegen uns dabei immer auch an der Grenze des konventionellen Geschäfts und seiner Entwicklungsmöglichkeiten.« Dennoch will er den Weg gehen, um diese Möglichkeiten auszuloten. »Wir bereiten den Weg in diese neue Zukunft.«

8. April 2021 von Daniel Hrkac
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