
Report - Spezial-Räder
»Das Dreirad ist das neue Cargobike!«
70 ist das neue 50 (Jahre), das Dreirad daher das neue Allrounder? Es fehlt eigentlich noch der passende Name für die Räder, um die es hier geht. »Spezialräder« oder »Dreiräder« ist zu allgemein, »Reha-Räder« zu einseitig besetzt und in unserer lifestyle-orientierten Radwelt nicht hip genug. Es geht um Räder, die es Menschen mit Beeinträchtigungen oder nach Unfällen erlauben, weiterhin Rad-mobil zu sein. Vor allem aber geht es um Fahrzeuge, die Menschen mit höheren, oft altersspezifischen Ansprüchen an Sicherheit und Komfort eine sichere Mobilität gewährleisten, sie aber nicht dabei als Alte oder Kranke kennzeichnen. Vor allem aber geht es um das Dreirad in Form des Sesselrads. Meist mit einem Laufrad vorn, zwei hinten, einfach zu fahren und für Menschen ideal, die Gleichgewichtsprobleme haben oder auf einspurige Räder nicht mehr aufsteigen können oder wollen und viel Komfort wünschen. Solche Räder schaffen ein sichereres Fahrverhalten auch bei geringer Geschwindigkeit bis zum Stand und können mit allen nur erdenklichen individuellen Sonderkomponenten zum Sitzen, Greifen oder Pedalieren ausgerüstet werden, wenn erforderlich.
»Wir können alle bedienen, die irgendwie radfahren wollen!«, erklärt Marc Wiesmann vom Marketing bei Hase Bikes. Das Waltroper Unternehmen bietet E-Bikes für Kids bis hin zu den Senioren und Seniorinnen, egal ob mit oder ohne Beeinträchtigungen. »Der bislang älteste Kunde war 96 Jahre alt.« Hase Bikes verkauft im Jahr derzeit etwa 3000 Räder, fast alles E-Bikes. »Das sind 1000 Einheiten mehr als vor Corona«, bestätigt Wiesmann. Das Potenzial des Spezialrads und speziell des Dreirads sieht man in Waltrop als riesig an. Aber wie kann ein Hersteller das Trike vom Reha-Rad zum Renner machen? Als Vorbild könnte das E-Bike selbst dienen, das einst in der gleichen Ecke angesiedelt war.
Eine Stärke der Kategorie Dreirad ist, dass sie älteren Menschen wieder zu einer sicheren Mobilitätserfahrung verhilft ohne sie in die Reha-Ecke zu schieben.
In Werbung und Marketing arbeitet man mit jungen und jung gebliebenen Menschen und jungen (Online-)Medien zusammen. »Wir sagen damit, man ist nicht automatisch alt, wenn man Dreirad fährt!« Das strahlt auch der feine, Boutique-artige Flagship Store des Unternehmens in Waltrop aus.
Der Klassiker Kettwiesel, gerade ganz neu überarbeitet, ist das meistverkaufte Rad der Waltroper mit einem Einstiegspreis von 8500 Euro.
Ganz andere Bedürfnisse
Natürlich ist aber auch das Dreirad nicht die allein selig machende Sparte. »Spezialradkunden haben ganz andere Bedürfnisse, die ein Rad erfüllen muss, das muss der Händler verinnerlichen«, sagt Thomas Uhe. Als klassischer Quereinsteiger ging er es pragmatisch an. Uhe ist 2009, nach einem Krankheitsfall in der Familie, zum Spezialradhändler geworden. Mittlerweile hat er unter dem Namen Dreirad.de Läden in Bremen, Hamburg, Havixbeck und in Bad Zwischenahn. »Es geht den Menschen um sichere Mobilität, oft um die Möglichkeit zur Mobilität überhaupt«, erklärt er. Viele hätten einen Einschnitt im Fahrradalltag erlebt, sind gestürzt oder umgekippt und haben Respekt vor dem Radfahren. Für den Kunden und die Kundin geht es hier nicht um den Trend-Touch der jeweiligen Radgattung, sondern um ein Angebot an Fahrzeugen, die zu den jeweiligen Bedürfnissen passen. Damit die Mobilitätssuchenden zu einem seiner Läden finden, nutzt er unter anderem auch Google Ads und ist sehr von dieser Strategie überzeugt. Ab 4000 Euro gelingt bei ihm der E-Dreirad-Einstieg – aber gekauft werden vor allem die Räder ab etwa 6000 Euro. Die Kundinnen und Kunden wollen Qualität und Sicherheit auf Dauer.
Platzprobleme? Nein!
Uhe hat in Bremen 1500 Quadratmeter Fläche. »Aber man muss die nicht haben«, sagt er. »Für den Dreiradhandel braucht man 15 Quadratmeter Stellfläche. Fünf Stück, das reicht.« Eine große Modell-Auswahl sei nicht nötig, es gehe darum, unterschiedliche mobile Möglichkeiten zu zeigen. Die Kundschaft sei, anders als im sportiven Bereich, Warten gewöhnt. Sie bestellt ihr Wunschrad, und die Räder können in wenigen Wochen geliefert werden. »Die Menschen bekommen ihre Mobilität zurück und sind happy – was die Arbeit mit ihnen auch sehr befriedigend macht. Was man aber viel mehr als beim normalen Rad braucht, ist Zeit für die Beratung.« Das Gegenüber muss sich wohlfühlen. Im Gespräch, bei einem Kaffee im Shop muss man herausfinden, was genau die Herausforderung beim Radfahren für den jeweiligen Menschen ist.
Bei der Beratung zu dieser Kategorie ist beim Handel eine gewisse Anpassung nötig. Wer sich darauf einlassen mag, erlebt heute oft überraschend gute Umsätze.
Das sieht auch Robert Schäfter so, Leiter eines E-motion-Fachgeschäfts mit Dreiradabteilung in Düsseldorf. »Meist sind die Kunden bei uns Menschen, die momentan nicht mehr Fahrrad fahren können, ältere und Menschen mit Behinderungen. Werbung machen wir wenig, aber wir werden von ihnen oft auf Produkte angesprochen, die sie im Straßenbild gesehen haben. Und diese Menschen kann man damit wieder glücklich machen«, sagt er. Als problematisch sieht er an, dass es nach wie vor wenig Fördermöglichkeiten gibt
(s. Kasten S. 18). Zudem läuft aktuell eine Förderung der Aktion Mensch aus. Sie unterstützt Institutionen wie Altenheime beim Kauf von Spezialrädern, nicht individuelle Kunden. »Je weniger das Stigma des Behindertenfahrzeugs dem Rad anheftet, desto mehr erkennen auch weniger beeinträchtigte Menschen das Dreirad als Option.« Als zusätzlichen Weg zur Kundschaft sieht er die aktive Ansprache von Institutionen wie Altenheime. Dann werden nicht nur Dreiräder, sondern auch Tandems, Rikschas, und Fahrzeuge für die Rollstuhlbeförderung verkauft. Viel wichtiger als Werbung sei »die gute, spezifische Beratung. Ein Dreirad fährt sich ganz anders als ein Zweirad. Kunden müssen das erst lernen, zwei bis drei Anläufe sind dafür nötig. Da braucht man Personal, das gut geschult ist, Empathie und Geduld mitbringt und erkennt, welche Anpassungen nötig sind. Und natürlich braucht es eine ruhige Umgebung zum Testfahren.« Anders als viele E-Bike-Nutzer sind Kunden oft zu 100 Prozent auf die Räder angewiesen. Ein Hol- und Bring-Service sei daher obligatorisch und mache den Service aufwendiger. Überhaupt warnt Schäfter davor, sich jetzt als Händler auf das Spezialrad als einfachen Weg aus der Krise zu stürzen. »Der prozentuale Anteil der Spezialräder am Verkauf hat bei uns deutlich zugenommen«, sagt er. Doch man sollte auch klar auf den zusätzlichen Aufwand und die höheren Anforderungen im Verkauf schauen. »Aus der Nische ist das Spezialrad jedenfalls raus«, ist auch Schäfter sicher.
Kein Kampf um den Preis
»Wir haben aktuell nicht die Probleme wie am Fahrradmarkt«, erläutert Kevin Wank. Er ist CEO des deutschen Reha-Radherstellers Pfiff Vertriebs-GmbH mit der Marke Pfautec in Quakenbrück. »Es gibt keine Rabattschlachten. Nach dem absoluten Boomjahr 2022 hat der Ansturm wieder etwas abgenommen, es läuft aber stabil.« Und er verweist auf eine Besonderheit: Im Dreiradbereich müsse grundsätzlich mit Komponenten einer höheren Qualitätsklasse gearbeitet werden, was die Räder teurer macht. »4000 Euro Einstieg mit Bosch-Motor funktioniert hier nicht. Die Einstiegspreise haben sich erhöht«, sagt er, »aber die Akzeptanz des Dreirads in der Bevölkerung ist auch deutlich besser geworden.« Die Klientel entwickle sich: »Menschen mit klassischen altersspezifischen Einschränkungen und erhöhtem Sicherheits- und Komfortbedürfnis werden immer mehr. Noch 2020 hatten wir einen wesentlich höheren Anteil an gehandicapten Personen.« Am häufigsten stiegen nun Menschen mit Gleichgewichtsproblemen aufs Dreirad, ältere Menschen oder jüngere nach einem Unfall. Im 5000-Euro-Bereich spielt sich bei Pfautec das meiste ab. 20 Prozent der Räder gehen in den Export, viele in die Niederlande. In Deutschland gibt es mittlerweile 550 Pfautec-Händler, weltweit etwa 660. »In Deutschland sind wir schon weiter als anderswo«, sagt er. »Die Schweiz ist auf dem Weg, Frankreich und Italien werden in den nächsten Jahren zulegen.« Die Händler nähmen jetzt die Sparte mehr in den Blick, weil die Margen stimmen und Mobilität der Klientel viel Geld wert ist. »Unsere Vertriebler sind geschult, empfehlen dem potenziellen Händler, 25 Quadratmeter einzuräumen, raten zu bestimmten Produkten.« Zwei Bio-Normalräder schaffen Platz für ein E-Dreirad, so die Rechnung. »Und man braucht nicht die große Auswahl.«
Händler schildern meist: Wer erstmals ein Dreirad ausprobiert, greift zunächst oft zum Klassiker: Einen »normalen« Tiefeinsteiger mit zwei Rädern hinten, weil es dem gewohnten Rad optisch am nächsten kommt. Dass diese Räder aber nicht mehr so »normal« zu fahren sind und oft weniger stabil erscheinen, überrascht sie bei Testfahren meist. Dann ist der Weg zum sichereren und komfortableren Sesselrad frei, das oft schnell überzeugt, obwohl es doch optisch und technisch einer anderen Kategorie angehört. Diesen Lernprozess kann der Händler unterstützen, die Kundschaft muss ihn aber selbst erleben.
Lastenrad hat Dreirad erst ermöglicht
Vom sportlichen Liegerad aus kam HP vor gut 10 Jahren zum Reha-Bike. Mittlerweile sind das neue Delta TX, ein klassisches Sesselrad und der Scorpion mit zwei kleinen Rädern vorne und einem 26er-Hinterrad die Bestseller. Um die 2000 Räder baut man in Kriftel gleichbleibend die letzten Jahre, erklärt Alexander Kraft, Pressesprecher des Unternehmens. »Die alternde Gesellschaft ist zunehmend aktiv, unsere Kundschaft wächst. Und sie ist heute offen für andere Radtypen. Das Lastenrad war da ein wichtiger Vorreiter. Wir bemerken neues Interesse bei den Händlern, die den älteren Kunden im Blick haben.« Wie Hase, Van Raam oder Pfautec bietet HP Velotechnik einen enormen ergonomischen Individualisierungsgrad der Räder, teils mit eigenen Komponenten. Genau zuhören zählt: Man lerne auch von der Kundschaft. Ein sogenannter Sitzwinkel-Adapter beispielsweise ist mittlerweile für die ganze Dreiradlinie lieferbar, denn die Zielgruppe will offensichtlich noch aufrechter als zuerst angenommen sitzen.
Moderne Designs, wie hier von Van Raam, sorgen dafür, dass die Akzeptanz des Genres immer weiter steigt.
»Das Schöne am Spezialrad ist für den Händler, dass er mit wenigen Rädern sehr viel abdecken kann«, erklärt Kraft. Vom einfachen Alterswehwehchen bis hin zu sehr eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit ist alles möglich, die Individualisierbarkeit, oft mit eigenen Komponenten, geht bei den Dreirädern sehr weit.
»Unser modernes Design ist aber ebenso eine wichtige Komponente für den Erfolg, da heben wir uns stark von den Mitbewerbern ab.« Gerade die Scorpion-Modelle werden durch die bullige zweispurige Front von der Zielgruppe als besonders sportlich-lifestylig angesehen. So kann man auch beim Trike, das ja oft zunächst für die Mobilitätssicherung gewählt wird, Varianten mit sportlichem Auftritt haben.
»Social Media ist sehr wichtig«
Dass der Look einer der Schlüssel zur Akzeptanz des Dreirads ist, sieht man auch beim europäischen Dreirad-Marktführer Van Raam so. Das Unternehmen gibt sich als Vorreiter des smarten Designs, mit dem das Dreirad zum gut aussehenden Mobilitätsgaranten wird. Das in Kürze erscheinende Alltagsdreirad Thuja dürfte dem Image des Trikes jedenfalls weiterhelfen. »Wir sehen, dass modernes Design viel besser akzeptiert wird«, so Marnix Kwant, Head of Business Development bei Van Raam. So scheinen ältere Modelle, vor allem solche für zwei oder mehrere Fahrer, durchaus noch etwas mehr im Reha-Look als der derzeitige Topseller Easyrider.
Wie frisches Design gehört für Kwant auch Endverbraucher-Kommunikation über Social Media zum modernen Dreirad. »Wir sind auf Instagram und Facebook vertreten und finden das sehr wichtig«, so Kwant. Damit zeigen die Niederländer, dass sie auch an einer jüngeren Käuferschicht arbeiten. »Viel Marketing und viele Messebesuche sind schon nötig, um das Spezialrad auf Kurs zu halten. 18.000 Räder kamen 2024 aus der laut Unternehmen »modernsten Fahrradfabrik Europas«. 30 Prozent davon gehen nach Deutschland, zu einem der 196 Händler.
Wenn auch noch Fahrspaß dazukommt, wie hier bei HP Velotechnik, bleibt kein Wunsch offen.
Für Wachstum sorgen unter anderem sechs Außendienstler hier. »Der Markt wird noch kräftig wachsen«, ist man bei Van Raam sicher. Van Raam unterstützt aber auch Händlerveranstaltungen und schult zum Umgang mit der neuen Klientel. Das Unternehmen baut Kooperationen mit Altenheimen auf, die zum Beispiel freie Testangebote bieten können. »In den Niederlanden hat fast jedes Heim Räder von Van Raam«, so Kwant. »Das wird auch in Deutschland kommen.« Noch ein Plus für den Händler: Vororder braucht es grundsätzlich nicht.
Dreirad als Chance?
Ist das die neue Sparte, die in den nächsten Jahren mit viel Wucht den Markt erweitert? Hört man auf die Einschätzung von Herstellern und Händlern, ist das nicht ausgeschlossen. Öffnung der Endverbraucher für andere Typen, Altersentwicklung und Komfortbedürfnis sprechen dafür. Damit es gelingt, müssen aber auch große Aufgaben erfüllt werden. Man muss sich auf eine neue Klientel einstellen, sowohl zeitlich als auch mit seinen sozialen Skills. 1,5 Stunden Zeit nimmt man sich im Flagship Store bei Hase Bikes für die Kundschaft. Schließlich geht es für die Menschen um ihre Mobilität und nicht darum, das neueste heiße Ding zu fahren. //
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