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Werkstatt - Lastenrad im Service

Ein schwerer Fall für die Werkstatt

Es ist durchaus kurios: Das Lastenrad ist seit Jahren auf dem Vormarsch. Inzwischen rollen jährlich sechsstellige Stückzahlen neu auf die Straßen. Aber wenn diese Räder dann mal in die Werkstatt müssen, fehlen oftmals die passenden Strukturen. Entsprechend groß ist gerade der Veränderungsdruck.

Statt professionellen Service für ihre durchaus kostspieligen Cargobikes erhält die mitunter verwunderte Kundschaft eine mehr oder weniger improvisierte Werkstattleistung oder wird gleich ganz abgewiesen wegen völlig fehlender Strukturen. Das Dilemma, das sich an dieser Marktsituation ablesen lässt, besteht darin, dass der Erfolg des Lastenrads zumindest derzeit den dazugehörigen Werkstattbereich abgehängt hat.
Ingo Witte, Leiter beim VSF für das All-Ride-Qualitätssiegel, sieht vielfältige Herausforderungen. Es besteht Aufholbedarf in verschiedenen Bereichen, beginnend bei ganz grundlegenden Arbeitsschritten, wie dem Fixieren des Lastenrads in einen Montageständer. »Das Problem beginnt damit, dass es ganz viele verschiedene Lastenräder gibt. Das Fahrrad sieht immer einigermaßen gleich aus. Lastenräder gibt es mit zwei, drei oder vier Rädern in lang oder breit und vielen weiteren Varianten.« Die einspurigen Lastenräder auf dem Markt seien noch ganz gut von bestehenden Werkstätten zu bewältigen, »aber bei zweispurigen Rädern sieht das oft schon anders aus. Die sind mitunter sehr schwer anzuheben.« Ein einzelner Montageständer mit der Befestigung an der Sattelstütze kommt da oft schon an seine Grenzen. Und wenn das Cargo-Bike nicht die Grenzen des Ständers auslotet, dann auf jeden Fall die der Sattelstütze.

Doch ungleich zum Auto gibt es (zumindest aktuell) keinen »Ein-Montageständer-für-alle-Lastenräder« in der Werkstatt. Witte weist darauf hin, dass die Vielfalt der Arbeiten am Cargo-Bike sehr groß ist, was vieles erschwert. Es müssten sich nicht nur die Räder frei drehen können, sondern man muss auch mal eine Probefahrt machen können oder den Antrieb drehen, um die Gangschaltung einzustellen. Was an dem einen Cargobike gut funktioniert, kann am gleichen Montageständer mit einem anderen Lastenrad schon wieder scheitern. Einheitliche Standards sind noch sehr weit weg, wenn nicht gar unerreichbar. »Das Schöne am Lastenrad ist seine Vielfalt«, sieht Manuel Prager von Chike, »doch in dieser Hinsicht ist sie ein Nachteil.« Nach seiner Beobachtung gibt es keine Initiative, um an dieser Situation etwas zu ändern. »Das wäre sehr schwer zu realisieren.«
Stattdessen muss heute oft improvisiert werden. Witte beobachtet, dass die Kreativität in den Werkstätten sehr hoch ist: »Da haben sich Werkstätten schon zwei Deckenlifte nebeneinander montiert, um diese dann gleichzeitig zu betätigen, um ein Lastenrad anzuheben.« Andere setzen auf alternative Lösungen, die Witte auch schon gesehen hat: »Es gibt tatsächlich Läden, die so etwas wie eine Hebebühne nutzen. Diese stammt aus dem Bereich der Werkstätten, die Rasenmäher und Aufsitzmäher warten. Aber dann kann man natürlich nicht die Räder drehen, um zu sehen, ob die Schaltung passt.«
Bei Paul Lange, die sich auch als Werkstattausrüster einen festen Platz im Markt gesichert haben, empfiehlt man für den Lastenrad-Service aktuell den Deckenlift: »Während für die herkömmlichen Fahrräder und E-Bikes klassische oder elektrische Montageständer das Mittel der Wahl sind, ist für spezielle Cargobike-Arbeitsplätze eine elektrische Lastenwinde zu empfehlen, weil diese ein Höchstmaß an Flexibilität bietet«, erklärt Michael Wild, Marketingleiter bei Paul Lange.
Die Montageständer sind damit ein erster, im wahrsten Sinne, Anknüpfungspunkt, wenn es um die Unzulänglichkeiten im heutigen Werkstattbetrieb geht. Sind das aktuell tatsächlich alles Notlösungen und Improvisationen? »Wenn es um einspurige Lastenräder geht, genügen die meisten normalen Montageständer noch«, erklärt Witte, »wenn es mehrspurig wird, haben die meisten Werkstätten einen Deckenlift, wie er auch bei der Reparaturannahme verwendet wird.« Das sei heute noch das Funktionalste, was es auf dem Markt gibt. Allerdings gibt er zu bedenken, dass es bei mehrspurigen Lastenrädern schnell kippelig wird, wenn sie an nur zwei Punkten aufgehängt sind. Eine stabile Aufhängung, leicht und schnell zu bedienen, ist schwer zu finden. Das findet nicht nur Witte erstaunlich, offenkundig besteht da also noch eine Angebotslücke. Es ist aber vielleicht auch nicht allzu überraschend: Würde man die gleiche Vielseitigkeit des Montageständers wie beim normalen Zweirad erwarten, dann müsste er auch schwenkbar sein. Und das macht die Sache dann schnell komplex.
Tatsächlich gibt es aber bereits findige Unternehmen, die sich genau dieses Themas angenommen haben. Reifig Fahrradmontageständer aus Münster etwa hat bereits den Bedarf erkannt und bietet eine Lösung eigens für die Lastenradwartung an. Die Unterschiede zum Standard-Montageständer sind eine größere Bodenplatte für besser Standfestigkeit, eine höhere Bauweise, um die benötigte Arbeitshöhe zu erreichen, und ein kräftigerer Motor für das Gewicht der Lastenräder. Es ist zu erwarten, dass das Angebot in diesem Bereich auf absehbare Zeit noch wachsen wird.

Platzbedarf ist nicht zu unterschätzen

Wenn sich jemand seine Werkstatt neu einrichten will, bietet der VSF seinen Mitgliedern Werkstattberatungen an, bei denen inzwischen auch das Lastenrad eine Rolle spielt. Witte: »Wir fragen inzwischen mit ab, welche Lastenräder repariert werden sollen und wie viele. Da muss man gegebenenfalls einen ganz anderen Platzbedarf einplanen.« Während für eine klassische Werkstatt ein Arbeitsplatz eine begrenzte Quadratmeterfläche benötigt, reicht das für das Cargo-Segment nicht. »Für das Lastenrad braucht man natürlich viel mehr Platz.«

Für einspurige Lastenräder sind die heute in der Werkstatt eingesetzten Montageständer meist noch gut geeignet. Wenn es darüber hinaus geht, kommen sie mitunter an ihre Grenzen.

Auch an der Werkbank reicht eine »klassische« Lösung mitunter nicht aus. »Beim Lastenrad geschieht es schnell, dass man viel darum herumläuft. Dann reicht die Werkbank allein nicht mehr aus und man braucht noch etwas Rollbares dazu«, beobachtet Witte. Seine Erwartung ist daher, dass es eigens für diese Räder neue Werkstattlösungen brauchen wird.
Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur der eigentliche Arbeitsplatz der Mechaniker muss größer sein, »auch die Wege müssen breiter sein, um diese Fahrzeuge dorthin zu bekommen«.
Das ist mitunter nicht zu schaffen. In einem kleineren Lokal mit entsprechend begrenzten Werkstattflächen lässt sich oft keine solche Lösung mehr realistisch abbilden. Michael Wild sieht in der Praxis hier eine große Hürde. »Tatsächlich ist der Platzbedarf einer der großen Knackpunkte. Viele ›ältere‹ Werkstätten stoßen schon mit den kleineren Cargobike-Modellen an ihre räumlichen Grenzen. Bei den großen Modellen für Lieferdienste, also für die sogenannten ›Last Mile‹-Transporte, gilt das dann ganz besonders. Da sind dann manchmal schon großzügig geplante Werkstattbereiche zu klein, um vernünftig arbeiten zu können. Natürlich wird sich das im Laufe der Zeit verändern. Bei Werkstattumbauten wird das Thema Cargobike heutzutage fast immer schon mitgedacht und, sofern es die Gegebenheiten der Immobilie zulassen, bei der Planung berücksichtigt. Bei kompletten Ladenneubauten sowieso. Das Thema Platzbedarf beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Werkstatt selbst. Auch im Verkaufsraum und im Lager nehmen Cargobikes oft ein Vielfaches der Fläche herkömmlicher Fahrräder und E-Bikes ein. Insofern sind auch logistische Aspekte zu berücksichtigen.«

Schwierige Berechnung der Arbeitszeit

Ein anderes Thema rund um den Service von Lastenrädern in der Werkstatt ist die Abrechnung der Arbeitswerte. Im Frühjahr hat der Bundesinnungsverband für das deutsche Zweiradmechaniker-Handwerk eine aktualisierte Arbeitswerteliste herausgegeben, bei der die neue Kategorie der Lastenräder eingeführt wurde. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass konkrete Zeitaufschläge für diese Kategorie oft fehlen. »Die Zeiten wurden auf Basis der letzten Händler- und Herstellerumfrage mit Lastenradspezialisten abgestimmt«, heißt es vom Bundesinnungsverband, aber der Mehraufwand für ein Lastenrad lässt sich schlicht nicht allgemein beziffern, sondern ist abhängig vom jeweiligen Modell, das gewartet werden soll. Hier müssen die Werkstätten also derzeit erst mal selbst abschätzen, was sie für die jeweiligen Arbeiten abrechnen können, wollen und müssen. Auch hier ist die Branche bereits am Werk: Die Lücken in der Arbeitswerteliste sollen in absehbarer Zeit dank einer Initiative aus dem Handel geschlossen werden. Dennoch bleiben diese Werte wie zuvor nur Anhaltspunkte.
Eine noch untergeordnete Rolle spielen lastenradspezifische Werkzeuge. Bei den allermeisten Fahrzeugen für den Markt kommen Werkstätten mit dem aus, was sie für normale Fahrräder und E-Bikes benötigen. Anders sieht das nur bei den großen Hybrid-Fahrzeugen aus. »Gerade bei den großen ›Last-Mile‹ Lastenrädern kommen oft ganz spezielle, nicht fahrradspezifische Teile zum Einsatz, für die entsprechendes Spezialwerkzeug und auch entsprechende Fachkenntnisse benötigt werden«, beobachtet Michael Wild. Doch wer an diesen Fahrzeugen arbeitet, tut dies nicht zufällig und weiß in der Regel, worauf er sich einlässt, und wurde entsprechend geschult.
»99 Prozent der Kunden bringen ihr Rad zu dem Händler, bei dem sie ihr Lastenrad gekauft haben«, beobachtet Manuel Prager von Chike. Diese sind dann natürlich mit dem Produkt vertraut und entsprechend vorbereitet.
Insgesamt ist also zu erwarten, dass sich durch das Lastenrad die Werkstätten und die Arbeit in ihnen nochmals erheblich verändern werden. Das Segment bringt neue Bewegung in ein Feld der Fahrradwirtschaft, das über Jahrzehnte weitgehend routiniert daherkam und sich seit dem E-Bike immer schneller verändert. Die Innovationen haben noch nie vor der Werkstatt Halt gemacht. //

22. September 2023 von Daniel Hrkac

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