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Bei Copenhagenize werden urbane Verkehrskonzepte für Metropolen in aller Welt erdacht.
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Portrait - Copenhagenize

Eine Stadt als Designkonzept

Er stößt Leuten gern vor den Kopf. Da passt es irgendwie ganz gut, dass er Helme für Radfahrer ablehnt, weil er sich nicht in Gefahr begeben will. Eine These, die seine Bewunderer in aller Welt verbreiten. Mikael Colville-Andersen, 48, ist für viele Menschen eine Quelle der Inspiration: jemand, der mit dem Bekannten bricht, der aneckt, der etablierte Verhaltensweisen hinterfragt. Er hat aus dem Namen seiner Heimatstadt Kopenhagen nicht nur ein Verb gemacht, sondern eine Bewegung in Gang gesetzt, die weltweit wirkt.

An einem eiskalten, sonnigen Februarmorgen besuchen wir Copenhagenize. Viele Fußgänger, viele Radfahrer bewegen sich über die Brücke, die hinüberführt zu jenem einstigen Industriegelände, wo heute Mikael ­Colville-Andersen und sein Team arbeiten. Von hier blickt man auf das Meerwasser, das durch die Stadt fließt, und die alten Hafengebäude, die heute längst ins Stadtleben integriert wurden. Man sieht historische Bauten und moderne Architektur. Das Noma, eines der besten Restaurants der Welt, liegt direkt um die Ecke. Kopenhagen ist zweifellos eine schöne Stadt, eine mit urbanem Stil, in dem sich die Menschen wohlfühlen. Colville-Andersen möchte dieses Gefühl auch in anderen Städten erwecken.
Wer Copenhagenize zum ersten Mal besucht, wird allerdings überrascht sein: Colville-Andersen und seine Kollegen haben kein durchgestyltes Loftbüro. Wer sie besucht, findet den Firmennamen auf einem Metallschild, auf dem zehn Namen ausgestanzt sind. Hinter der Tür verbirgt sich ein dunkles Großraumbüro. Es ist laut, an langen Holztischen sitzen Männer und Frauen vor ihren Laptops, meistens sind es Apple-Rechner, man spricht Dänisch, Englisch und andere Sprachen, es klimpern Geschirr und Kaffee­tassen. Hier sitzt auch das Team von Copenhagenize: Heute sind fünf Mitarbeiter da, jeder vor seinem Laptop. An der weißen Wand dahinter hängen ein großer Stadtplan aus Russland, ein paar Plakate von Copenhagenize und ein Piktogramm, das eine Rikscha zeigt. Vor der Wand steht allerlei Gerümpel und ein rotes Lastenrad der Marke Bullitt, die ebenfalls aus Kopenhagen kommt.
Am hohen Besprechungstisch ein paar Meter weiter kommt Colville-Andersen schnell in Fahrt. Er formuliert griffig, salopp, gibt sich cool und haut Sprüche raus. Er möchte klare, einfache Botschaften senden. Eine wie diese hier auf die Frage nach den fünf Maßnahmen, die jede Stadt ergreifen kann, um fahrradfreundlicher zu werden. Da sagt Colville-Andersen: Man braucht nur eins zu machen, nämlich Kopenhagen kopieren. Es ist so einfach.
Tatsächlich ist es ganz einfach, in Kopenhagen als Fußgänger und als Radfahrer bequem und ungefährdet durch die Gegend zu kommen. Mehr als 60 Prozent der Pendler in Dänemarks Hauptstadt nutzen das Fahrrad, die Infrastruktur ist seit mehr als drei Jahrzehnten dafür immer weiter verbessert worden. Es gibt breite Fahrradwege, die teilweise sogar mit LED-Lichtern ausgestattet sind. Sie zeigen die grüne Welle an, die Radfahrer bei Tempo 20 ohne Ampelhalt durch die Stadt kommen lässt. Es gibt Fußrasten an den Ampeln, damit die Radler nicht absteigen müssen, und es gibt schräge Papierkörbe für die vorbeifahrenden Menschen.
Wer das einmal ausprobiert, wird staunen darüber, wie unbeschwert und stressfrei man durch eine europäische Metropole radeln kann – ohne Konfliktsituationen mit entnervten Autofahrern, ohne brenzlige Engstellen oder marode Radwege. So ist das Fahrrad immer das schnellste und bequemste Verkehrsmittel in dieser Stadt, etwa auch, wenn man vom Copehagenize-Büro einen Besuch bei der Kult-Radmarke Sögreni unweit der Universität von Kopenhagen machen möchte. Für die drei Kilometer mitten durch die Stadt braucht man vielleicht zehn Minuten, ohne sich anstrengen zu müssen.

Kopenhagen beflügelt die ­Fahrrad-Wirtschaft

Wo der Großteil der Menschen im Alltag das Fahrrad nutzt, boomt natürlich auch das Fahrrad-Business. Werkstätten sieht man überall. Colville-Andersen hat einmal in seinem Wohnviertel mehr als 40 gezählt. In diesem Setting wachsen auch international anerkannte Marken heran. Sögreni ist ein gutes Beispiel. In einem antik anmutenden Ladenlokal mitten in der Stadt verkauft das 1981 gegründete Unternehmen seine minimalistisch gestalteten Stahlräder aus eigener Herstellung. Sögreni war vor allem Trendsetter bei den Accessoires, etwa mit seinen robust-wetterbeständigen Klingeln, seinen stiftförmigen LED-Lampen oder dem komplett neu gedachten Gepäckträger, bei dem die Zulast mit einem alten Gummischlauch an der Metallkonstruktion befestigt wird.
Ein weiteres Beispiel für ein Unternehmen, das in Kopenhagen entstand und auch mitten in der fahrradfreundlichen Stadt – und nicht etwa in einem für Autos geplanten Industriegebiet – seinen Flagship-Store hat, ist Biomega. »Unsere Hypothese war, dass wir Menschen nur aus ihren Autos holen können, wenn wir Räder herstellen, die schön sind, einen hedonistischen Anstrich haben und ein hohes Maß an Bequemlichkeit bieten«, sagt Jens Martin Skibsted, der Mitbegründer und Kreativdirektor des Fahrradherstellers. Biomega hat ganz neue Konzepte in seinen Fahrrädern integriert – etwa, indem beim Modell Bos das Unterrohr durch ein Drahtschloss ersetzt wurde, mit dem man das Rad überall befestigen kann. Mit seinem Öko-E-Bike hat Biomega zuletzt international Aufmerksamkeit erregt, der Carbonrahmen hat beispielsweise integrierte Schutzbleche. Biomega, sagt Skibsted, »war Teil, als die Radkultur der Stadt mit der Designkultur zusammenging.«

Die Ästhetik des Radfahrens

Mikael Colville-Andersen, ursprünglich ein Filmemacher, mag Ästhetik und Design am Fahrrad. Seine Begeisterung für das Thema entstand, als er sah, wie viele Menschen ein Foto von ihm im Internet anklickten. Das Bild aus dem Herbst 2006 zeigte eine Frau im Rock, die an einer Ampel steht, während die anderen Radfahrer bereits losgefahren sind. Colville-Andersen fand die Aufnahme zunächst nur schön, doch er merkte, wie die Menschen im Netz darauf reagierten. Kann man mit so einem schicken Rock überhaupt Radfahren? Wie kann man sich so viel Zeit an einer Ampel lassen, offensichtlich ganz ohne Stress mitten in der Rush-hour? Colville-Andersen gefiel die Diskussion. Er wurde zum Bike-Blogger, und daraus entwickelte sich sein Büro für Design-Konzepte.
Es passe ins Klima Kopenhagens, sagt Colville-Andersen, dass hier gutes Fahrrad-Design entstehe, wie eben bei Bullitt, Sögreni und Biomega. Aber er sagt auch: »Für die berühmten 99 Prozent ist das Fahrrad nur ein Werkzeug – und so sollte es auch sein.« Er glaubt, die Hersteller und Händler sollten diese Bedürfnisse genau studieren. Es gebe einen Trend zu Vintage-Rädern, »ein klares Zeichen an die Hersteller«, dass die normalen Stadt-Fahrer eben kein High-tech oder kompliziertes Equipment brauchen. Mit E-Bikes steht Colville-Andersen ohnehin auf Kriegsfuß: »Es ist eine E-Bike-Industrie entstanden, die so eine blutrünstige Mentalität hat wie die Autoindustrie. Das ist gefährlich, denn sie erzählt einer ganzen Generation, dass man ohne Motor nicht fahren kann.«
Das Team von Colville-Andersen arbeitet mit einem anderen Ansatz. Es geht nicht um Technologie, sondern eher um Planung im Sinne menschlicher Grundbedürfnisse. Tatsächlich hat man schon vielfach mit Anthropologen zusammengearbeitet, als es darum ging, die menschlichen Bedürfnisse an belebten Kreuzungen zu verstehen und entsprechende Pläne vorzulegen. Colville-Andersen kooperiert mit Stadtentwicklern, Designern, manchmal auch mit Architekten. Von Ingenieuren hält er nicht viel, zumal von solchen, die in Städten die urbane Planung leiten: »Aus meiner Erfahrung sind sie oft die größten Hürden, wenn Politiker etwas zum Guten verändern möchten.«

Blaupause für mehr ­Radverkehr

Das Team von Copenhagenize hat sich einen Namen gemacht, weil es die viel beachteten Rezepte der Stadtplanung aus seiner Heimatstadt an anderen Orten einbringen kann. Das funktioniere gut, sagt der Gründer, um Aufträge müsse er sich nicht bemühen – stattdessen rufen ihn Städte an und bitten um Beratung. Long Beach in Kalifornien ist so ein aktuelles Beispiel. Ein besonders wichtiges Argument für die Arbeit im Sinne der Kopenhagener Verkehrspolitik sei, dass man mit Fahrrädern und öffentlichen Verkehrsmitteln einfach mehr Menschen in gleicher Zeit transportieren könne, sagt Colville-Andersen. Wenn man noch die nötigen Investitionen vergleicht, könne das kein Kommunalpolitiker übersehen. Jedes Jahr veröffentlicht Copenhagenize eine medial gern weiterverbreitete Übersicht der fahrradfreundlichsten Städte, Colville-Andersen reist von Kongress zu Kongress, um für sein Thema zu werben.
Aktuell hat das Team einen besonders umfangreichen Auftrag: Noch 2016 wird man damit beginnen, die russische Ölstadt Almetjewsk umzugestalten. Der noch immer sowjetisch anmutende Ort soll komplett nach den Ideen der dänischen Experten umgestaltet werden, man habe »Carte Blanche«, sagt Colville-Andersen über das seiner Meinung nach »größte städtebauliche Projekt, das es im 21. Jahrhundert bislang gegeben hat«. 200 Kilometer Infrastruktur sollen insgesamt neugestaltet werden, noch in diesem Jahr sind die ersten 50 geplant. Dafür werden Daten erhoben, auf Karten zugeordnet, in einer sogenannten »Raum-Syntax-Analyse« ausgewertet – ehe Colville-Andersen den Machern in Russland vorgibt, was sie bauen sollen. Die Anweisung der Stadtspitze sei klar: Die Ingenieure setzen um, was Copenhagenize ihnen sagt.
Man wird kaum leugnen können, dass eine fußgänger- und fahrradfreundliche Infrastruktur für die Menschen besser ist. Doch so klar das ist, so unklar ist es, wie diese Ziele sich erreichen lassen, wenn es demokratisch zugeht. In Kopenhagen gibt es seit langer Zeit einen Konsens, dass Autos eher die Nebenrolle spielen sollen – doch diese Entwicklung war seit Jahrzehnten gewachsen, hat auch mit den örtlichen Gegebenheiten zu tun. An anderen Orten würden die Kopenhagener Rezepte ebenso gut wirken, meint Colville-Andersen auch mit Blick auf Deutschland, doch niemand mache die nötigen Schritte. »Die Deutschen sind die Amerikaner Europas. Wenn Lösungen nicht bei ihnen entwickelt wurden, interessiert es sie eigentlich nicht«, sagt er. Am Ende, siehe Russland, sei es immer so: Nur wenn ein Mensch an der Spitze der Verwaltung vom Thema Fahrradfreundlichkeit überzeugt sei, lasse sich das Ziel auch konsequent umsetzen. Aus Colville-Andersens Sicht schlägt bei diesem so menschenfreundlichen Thema der »Top-Down«-Ansatz die Basisdemokratie um Weiten. So muss er also die Entscheider überzeugen.
Läuft eigentlich alles rund in Kopenhagen selbst? Auch das nicht. Colville-Andersen sagt, dass eigentlich niemand am großen Konsens ruckele. Doch gebe es immer wieder politische Initiativen, etwa für mehr Autoparkplätze in der Stadt. Es geht dabei um Wählerstimmen – wobei doch jeder wisse, dass die nötigen Mittel viel besser anders genutzt werden könnten. So etwas macht den Fahrraddenker aus Dänemark zornig – auch das Bike-Sharing-System in seiner Stadt: Überkandidelt, mit teuren E-Bikes und Navigationssystem. »Das benutzen nur Touristen, das geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Das ist Verschwendung von Steuergeldern.«
Mikael Colville-Andersen macht sich viele Gedanken zum Thema Fahrrad. Dabei sieht er sich nicht mal als Radfahrer. Er sei einfach nur ein Kopenhagener, bei dem wie bei jedem anderen das Rad zum Leben dazugehört. Da passt dann eben auch kein Helm. Wobei: Einmal in seinem Leben hatte er einen Kopfschutz an, im Velodrom von Budapest. Man riet ihm dazu, er ließ sich bequatschen. Immerhin war es kein moderner Kopfschutz, sondern einer aus Leder, einst getragen von Eddy Merckx. Das hatte Stil, das konnte man so machen.

12. April 2016 von Tim Farin

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