
Marktbericht - Gravelbikes
Stollen-Dropbar wird zum Renner
Bei den vielen eher unerfreulichen Zahlen, die der Zweirad-Industrie-Verband Mitte März zum Branchenjahr 2024 veröffentlichte, gab es einen Ausrutscher ins Positive. Das Gravelbike. Das kann man besonders gut am Vergleich mit dem Corona-Jahr 2021 erkennen. Damals machten die Verkaufszahlen von Rennrad, Gravelbike und deren E-unterstützte Varianten zusammen fünf Prozent der gesamten Verkäufe aus. Darin enthalten ist sogar noch ein Corona-Bonus, 2020 begann bekanntlich der große pandemiebedingte Run auf das (E-)Bike. Vier Jahre später, 2024, kommt das Gravelbike ohne Motor alleine schon auf 6,5 Prozent Marktanteil, das Rennrad auf fünf Prozent. Bei etwas sinkenden branchenweiten Verkaufszahlen konnte das Gravelbike also seinen Anteil deutlich vergrößern. Zusätzlich wurde selbst das E-Gravelbike mit einem Prozent Anteil am gesamten Fahrradmarkt doppelt so erfolgreich wie das E-Rennrad. Und die Preise beim Allrounder stiegen 2024 entgegen der allgemeinen Tendenz sogar etwas an. Die Argumente für das Rennlenker-Rad hat man schon 1000-mal gehört: Als Renn-, Gelände-, Touren- wie Pendlerrad einsetzbar. Außerdem so leicht und luftig designt wie ein Rennrad, aber so ruppig fahrbar wie ein MTB, und das alles mit einer zumindest meist halbwegs entspannten Sitzposition. Dazu kommt der Look-versus-Feel-Faktor des Gravelers. Die Optik des Rennrads, aber höherer Komfort und Nutzen.
Vom Profi-Sportrad zum Alleskönner ...
Spannendes kann man bei Stevens zur Entwicklung der Gravel-Lust erzählen. Dort gibt es viel Erfahrung mit Offroad-Dropbar. Von vielen Sporterfolgen bekannt, waren Cyclocrosser bei den Hamburgern immer beliebt. »Es gab vor mehr als fünf Jahren einen Zeitpunkt, wo die Cyclocrosser die Rennräder überholt haben. Und vor gut 3 Jahren hat der Gravel-Bereich nicht nur den Rennrad-, sondern auch noch den Cyclocross-Bereich (in Kombination, beide Mengen addiert) eingeholt. Gravel nimmt momentan 15 Prozent unserer Kollektion ein«, so Volker Dohrmann, Chief Brand & Product Officer bei
Stevens. Zehn Basismodelle und 14 Modelle decken vom Gravel-Racer bis hin zum Touring-Graveler alles ab.
Für 2025 rechnet man mit den (guten) Absatzzahlen von 2024. Beim Modellwechsel »geben die jeweils neuen Gruppen der Komponenten-Anbieter oft den Takt vor.« Zwei bis drei Jahre nennt Dohrmann als normale Frequenz. Ob der Gravel-Markt bald gesättigt sein könnte, dazu will er sich nicht festlegen. Der enorme Zulauf zum Sektor wäre noch vor zehn Jahren nicht erwartbar gewesen. Als erfahrener Branchenexperte weiß er aber auch, dass es solche Überraschungen auch andersherum geben kann und bleibt skeptisch zur Dauer des Trends.
… und zurück zum hochspezialisierten Sportler
Trends treiben die Entwicklungen an. Wo ausschließlich kabellos geschaltet wird, so Dohrmann, ließen sich neue Rahmenentwicklungen feststellen. Es gibt damit Freiraum für das Design. Keine Kabel können verdrecken oder beschädigt werden, das bringt Offroad-Vorteile. Rahmenintegriert werden oft die Bremsleitungen verlegt, wenn auch nicht immer zur Freude von Werkstätten und Abenteuer-Gravelern.
Wer wie der Düsseldorfer Fachhändler Schicke Mütze traditionell auf Rennlenker gesetzt hat, konnte dank des Gravelbooms in den letzten Jahren zulegen.
Federgabeln gibt’s nicht. »Wir halten das ›pure‹ Fahrerlebnis und niedriges Gewicht für überzeugender«, so Dohrmann, der aber viel Komfortpotenzial bei den verbauten 40er- und 45er-Reifen sieht.
Die Klientel ist in den letzten Jahren um die Gravelracer erweitert worden. Und womöglich schließt sich hier der Kreis, denn »die ausgefeilten Geometrien der Racer entsprechen fast den Cyclocrossern.« Bleibt die Frage: Warum schlägt ein Fahrrad mit Rennlenker so ein?
»Die Nachfrage steigt kontinuierlich«
Anbieter wie Corratec lassen auch Allroad-Räder in den Gravel-Sektor hineinlaufen. Mittlerweile gibt es bei den Bayern sieben Gravel-Modelle und einen E-Graveler. Sabrina Glaß, Marketing-Leiterin des Unternehmens, erklärt, dass die ersten 25er-Modelle bereits ausverkauft sind. »Die Nachfrage steigt nach wie vor kontinuierlich, da die Räder für jedes Bedürfnis der Zielgruppe die geeigneten Features aufweisen.« Dabei gibt es bei fast allen Varianten einen jährlichen Modellwechsel. »Man darf aber nicht vergessen, welchem Einsatzzweck das Rad dient«, sagt sie mit Blick auf Features wie Aerodynamik und das Corratec-eigene »Inner Cable Routing«. »Leute, die ein Outdoor-Abenteuer starten wollen, sind mit einfacherer Technik deutlich besser bedient.« Auch Einsteiger, die auf ein starkes Preis-Leistungs-Verhältnis achten, kämen damit besser weg.
Das E-Gravelbike der Raublinger sei noch einmal stärker auf eine komfortaffine Zielgruppe abgestimmt, mit bequemerer Sitzhaltung und einem ruhigeren Geradeauslauf.
Aus simpel wird spezialisiert
In den letzten Jahren haben sich Nutzergruppen herausgebildet, die die Diversifizierung des Gravelers mit beeinflussen. Da gibt es Ex-Rennradfahrerinnen mit dem Wunsch nach mehr Einsatzspektrum, vom Mountainbike kommende Biker, die ein leichteres Rad für leichtes Gelände wollen, Menschen, die ein starkes Fahrerlebnis mit Tourentauglichkeit verbinden möchten und Pendler und Pendlerinnen, die schneller und mit mehr Spaß als auf dem Tourer von A nach B kommen wollen. Zudem diversifiziert sich der Sektor immer mehr in Richtung Race, Abenteuer oder Pendlerrad, um drei Extreme zu nennen. Händler sehen das allerdings oft entspannter, als man glauben könnte. »Ja, die Diversifizierung gibt es, sie ist auch von den offiziellen Rennformaten im Gravel-Sektor getrieben«, sagt Carsten Wien, Geschäftsführer des Düsseldorfer Rennrad- und Gravel-Fachgeschäfts Schicke Mütze. »Grundsätzlich sehen wir aber den Ursprungsgedanken als wesentlich an: Das Rad mit Rennradbügel und viel Reifenfreiheit als schnelles Rad für die Waldautobahn oder eben die mehr aus dem MTB kommende Variante mit sehr breiten Reifen und Transportmöglichkeiten für den Fokus auf Bikepacking.« Wenn es um die Entwicklungen wie integrierte Schaltzüge geht, ist man weniger gelassen. »Solange es um Räder mit elektronischer, kabelloser Schaltung geht, kann das sinnvoll sein«, so Wien. »Ansonsten erkauft man sich mit dem durchaus verständlichen Wunsch nach cleaner Optik große Probleme«, meint er mit Verweis auf sehr zeitaufwendige Reparaturen wegen manch schlechtem Design-Konzept der Hersteller. Durch die penible Auswahl ihrer Lieferanten gebe es solche Räder im Portfolio der Mütze aber kaum.
»Die Gravel-Grenzen verwischen immer mehr«, so Wien. Doch gefederte Vorbauten oder Gabeln würden dort wenig Sinn ergeben, wo ein breiter Reifen ohnehin viel auffangen kann. Weiterentwicklungen des Vorhandenen, wie des Rennlenkers mit geringerem Drop und etwas Flare, seien aber sinnvoll und kämen vor allem den Rennlenker-Neulingen entgegen, ebenso eine weniger nervöse Geometrie. Das Gravel-Klientel der Mütze lässt sich nicht einordnen: »Es ist wie beim Fahrrad überhaupt gemischt und sehr individuell.«
Rennlenker-Räder bescherten dem Unternehmen im allgemeinen Krisenjahr 2024 guten Erfolg. »Auch wir haben zwar noch etwas zu viel Bestand, er wird aber aktuell abgebaut.« Neben der breiten Bereifung, die mehr Sicherheit suggeriert, sieht der Händler die Möglichkeit, abseits viel befahrener Straßen sicher vor Autos unterwegs sein zu können als einen Grund für den anhaltenden Trend. Grundsätzlich setzt die Schicke Mütze auf Bikes ohne Unterstützung. »Ich sehe in diesem sportiven Bereich bisher keinen Sinn in motorisierten Rädern«, so Wien.
E-Unterstützung im Alltag und auf Touren
Zumindest für die Alltags- und Tourenfahrer unter den Gravelern sieht man bei Trek Bicycles eine auch elektrische Zukunft. Veit Hammer, Communications-Manager DACH für die Amerikaner, meint, »die Unterstützungsbegrenzung mit Blick auf die Geschwindigkeit kommt im Gravel-Bereich weniger zum Tragen als im E-Road-Bereich. Grundsätzlich wächst bei Trek das Schotter-Segment in den letzten Jahren kontinuierlich. Das liege daran, dass neue Zielgruppen erschlossen werden konnten und der Einsatzbereich immer größer wird. Die Modellpalette Domane steht hier für die Brückengattung des Allroadbikes, eine Gattung, die in den letzten Jahren des Gravelbooms im Markt etwas vernachlässigt wurde. Ihre Domäne: Straßenbelag aller Art und nicht zu grobe Schotterstrecken, also ein »Rennrad Plus«. Mehr auf Alltag und Bikepacking gemünzt ist die Checkpoint-Familie. Das recht neue Gravel-Race-Segment wird vom Checkmate bestückt. Die Modelle sind unter anderem in Hinblick auf die Reifenbreite individualisierbar.
Egal, ob vom Fachhandel oder Direktverkäufer: Das Gravelbike hat auch unter den Frauen erstaunlich viele Fans.
Auch bei Trek schätzt man die Aerodynamik der Vollintegration. Doch, so Hammer: »Es gibt aber auch Modelle, bei denen andere Aspekte wichtiger sind. Je nach Einsatzbereich gibt es hier verschiedene sinnvolle Lösungen.«
Vom MTB auf den Rennlenker?
Die Direktvertreiber engagieren sich besonders stark in diesem Segment und haben große Marktanteile erobert. Das liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass man den Markt aufmerksam analysiert. Steigbügelhalter des Gravelbikes, so sieht man es beim Versender Canyon, war in den letzten Jahren auch die Käufergruppe, die vom Mountainbike kam. »Unsere Zahlen deuten darauf hin, dass es zusätzlich zu einer Ausweitung des Marktes geführt hat«, so Pia Moritz vom Brand Management. Man nehme eine größere Trennung zwischen Gravelperformance und Adventure wahr, und damit auch mehr angesprochene Fahrerprofile. Zusätzlich »ist der Anteil der Frauen höher als in jeder anderen Kategorie«.
An eine schnelle Sättigung glaubt man hier nicht. »Die Kategorie entwickelt sich schnell weiter«, so Moritz, der Fokus liege neben Performance auf Abenteuer. Für beide Klassen sieht man die Integration der Kabel als wichtig an. Vorteile seien die Aerodynamik beim Performancer wie auch der Platz für die Lenkertasche. Auch für die Federung sieht man beim Versender in einigen Bereichen klare Vorteile, wie sich in Tests mit Athleten zeige. »Gravel ist heute breiter aufgestellt als je zuvor. Wir haben die Antwort auf die Diversifikation und blicken mit Vorfreude in die Zukunft«, meint Moritz.
Komfort? Ja, aber nicht dank Federgabel
Auch beim zweiten großen deutschen Versender, Rose ist man mit dem Graveler sehr zufrieden. »In der Kategorie hatten wir in den letzten zwei Jahren je ein Wachstum von ca. 20 Prozent«, meint Jana Kracht, Brand Marketing Managerin in Bocholt. In seinem Geschäftsbericht meldete Rose einen Marktanteil von satten
15 Prozent im deutschen Gravel-Sektor. Allerdings rechnet man dieses Jahr mit einem Anstieg von »nur« noch zehn Prozent der Verkäufe zu 2024. An eine baldige Sättigung glaubt man aber gar nicht, schon das breite Einsatzspektrum des Rades sorge für neue Nutzergruppen. »Alle Rennradfahrer kennen den Passo Stelvio, aber bisher sind bestimmt nur wenige die Gravel-Straße hochgefahren«, meint Kracht. Entsprechend spezifiziert man die Gravelbikes jährlich teils neu, ein Produktlebenszyklus bedeutet hier zwei bis drei Jahre. Sehr klar bekennt man sich zur Integration. »Züge sind vor Stürzen und äußeren Einflüssen besser geschützt.« Zudem sind die oft verbauten elektronischen Schaltungen wartungsärmer. Auch auf die elektrische Unterstützung beim Graveln blickt man positiv. Das E-Gravelbike könne einige Stärken ins Feld führen. »Entspanntes Pendeln, Leistungslücken schließen und Trips in bergige Regionen« nennt Kracht als wesentliche Einsatzbereiche. Federgabel? Bislang bei Rose nicht.
Großer Anteil im Portfolio
Auch die Verkaufszahlen im Gravel-Portfolio bei Merida-Centurion »sind in den vergangenen drei Jahren sehr stark gestiegen«, erklärt Vertriebsleiter Rafael Oppold. »Obwohl auch die Rennräder zugelegt haben, verkaufen wir etwa doppelt so viele Gravelbikes.« Satte 13 Modelle, also 25 Prozent des Merida-Line-ups ohne Motor, machen sie inzwischen aus, bei Centurion sind es vier Modelle. Mit zwei (Merida) beziehungsweise drei (Centurion) E-Modellen ist MCG auch stark im motorisierten Bereich vertreten. Der Boom lebt weiter, davon ist man überzeugt. Dafür sprechen auch die Untersegmente, die sich herausgebildet haben. Neben den klassischen Nutzertypen Tourer/Bikepacker/Pendler sieht man auch hier den Race-Graveler als relevante Zielgruppe. Stark genutzt wird das Rad zunehmend als Ersatzrad des Rennradlers für den Winter.
Girls graveln gern
Noch eine Besonderheit des Booms: Gravelbikes werden aktuell zu einem höheren Teil von Frauen gekauft als Räder anderer Radgattungen, sieht man vom Tiefeinsteiger ab. Gleichzeitig gibt es nur wenige Gravel-Modelle, die sich mit spezieller Geometrie an sie richten. Beim Renner dauerte es auch einige Jahre, bis Frauen-Geometrien im Portfolio von Herstellern ankamen, allerdings sind sie nur an wenigen Stellen im Portfolio geblieben. //
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