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Markt - ABS-Bremssysteme

Voll in die Bremsen

Es gibt in der Fahrradwelt viele spannende Technikthemen, für die man sich begeistern kann. Eine der bemerkenswertesten technischen Entwicklungen der jüngeren Zeit sind ABS-Systeme. Sie haben das Potenzial, Radfahren für viele Menschen sicherer und komfortabler zu machen. Gleichzeitig sind sie im Markt praktisch noch kaum vertreten.

Es ist nicht, wonach es aussieht: Nur mit viel Ziehen und Strecken lässt sich das Hinterrad noch in die Luft bekommen, und selbst das gelingt nur bei Geschwindigkeiten unterhalb von fünf km/h – dann ist das ABS von Blubrake aus.

Die Diskrepanz zwischen den Vorzügen von Anti-Blockier-Systemen für das Fahrrad und der bisher fehlenden Akzeptanz ist so groß, dass man sich verwundert die Augen reiben kann. Denn die breite Masse von Radfahrern profitiert unmittelbar von diesem Sicherheitsfeature. »Der Einsatz eines ABS-Systems am E-Bike ist ein deutlicher Sicherheitsgewinn. Häufig ist falsches Bremsverhalten die Ursache bei Pedelec-Unfällen«, heißt es etwa von Bosch, wo man das eigene System seit zwei Jahren vermarktet und überzeugt ist, dass diese Technik einmal Standard am E-Fahrrad sein wird. Die Grundlagen für einen solchen Erfolg sind zunächst einmal gegeben.

Die Technik

So lässt sich festhalten, dass die aktuellen Systeme funktionieren. Im Wesentlichen sind drei Anbieter zu nennen, die fertige Produkte zu bieten haben. ABS-Systeme können derzeit Bosch, Blubrake und Brake Force One bereitstellen. Sie alle lassen sich in aktuelle E-Bikes einfügen, wo die notwendige Stromversorgung gegeben ist. Im Rahmen der physikalischen Grenzen verhindern sie effektiv Überschläge und wegschmierende Vorder- und teilweise Hinterräder. Sie unterscheiden sich durchaus auch technisch voneinander, was für die reine Marktbetrachtung hier aber untergeordnete Rolle spielen soll. Die Unterschiede liegen etwa darin, ob das Hinterrad ebenfalls aktiv gegen ein Blockieren geschützt werden kann (nur bei BFO), wie die Sensorik im Detail arbeitet und insbesondere bei der Optik: Mal ist das ABS komplett im Rahmen integriert (Blubrake und BFO), mal ist es als Kästchen vor dem Lenker gut von außen sichtbar (Bosch). Wichtiger ist zu diesem Zeitpunkt die elementare Funktion von ABS: Die meisten Unfälle, die durch eine falsche Einschätzung der Bremswirkung oder des Untergrunds verursacht werden, lassen sich mit ABS-Systemen verhindern. Gerade unerfahrenere Radfahrer, die sich unverhofft in schwierigen Fahrsituationen wiederfinden, sei es im Straßenverkehr oder im Gelände, können mit einem solchen Bremsassistenten manche unschöne Erfahrung vermeiden. Wer jetzt denkt, dass mit solchen Vorzügen eigentlich nichts schiefgehen kann bei der Markteinführung, sollte sich noch einmal kurz in Erinnerung rufen, wie diese beim Auto und Motorrad ablief.

Die Geschichte

Zum ersten Mal beantragte 1903 ein Franzose ein Patent auf ein ABS-System, damals ging es um Eisenbahnen. Wie nützlich eine solche Funktion sein kann, wurde also schon sehr früh erkannt. 1969 begann die Entwicklung eines ABS-Systems für Pkw bei Bosch, das dann ab 1978 gefertigt wurde. Damit ist Bosch kein Pionier in diesem Segment: Schon 1966 wurde der erste Pkw mit einem ABS ausgerüstet, dazwischen haben noch viele andere Unternehmen ihre Lösungen vorgestellt. Allerdings hat Bosch den Begriff »ABS« geprägt und auch rechtlich geschützt. Die Begeisterung für ein sichereres und besseres Bremsverhalten hielt sich bei den Kunden zunächst in Grenzen. Als Sonderausstattung mit Preisen von etwa 2000 Mark verblieb das Antiblockiersystem zunächst in der Rubrik Nice-to-have und Luxusausstattung. 1986 wurde das Einmillionste ABS ausgeliefert, 1999 erreichte Bosch die 50 Millionen Einheiten. Seit 2014 gehört ein ESP (Elektronisches Stabilitätsprogramm) in der EU zur Pflichtausstattung aller neu zugelassenen Pkw und Lkw. Es handelt sich dabei um eine Fahrdynamikregelung auf der Basis eines ABS, das mit einer Antischlupfregelung und Bremskraftverteilung erweitert wurde.
Weniger geradlinig verlief die Verbreitung bei Motorrädern. Erstmals 1985 vorgestellt ist ein solches System in der EU seit 2016 Pflicht für neue Fahrzeugtypen über 125 cm³ Hubraum. Es waren eher die Motorradhersteller als die Käufer, die für eine Verbreitung von Bremsassistenten sorgten. Obwohl ein ABS einer Untersuchung von Dekra zufolge über 50 % aller schweren Unfälle vermeiden könnte, sind solche Systeme am Motorrad lange ignoriert worden.
Auch zur Sicherheit am Fahrrad gibt es eine Studie der Bosch-eigenen Unfallforschung: »Wenn alle Pedelecs mit ABS ausgestattet wären und die Fahrer entsprechend reagieren, könnten jährlich bis zu 29 Prozent aller Unfälle mit Pedelecs vermieden werden. Zusätzlich könnte die Anzahl der Unfälle mit schweren Verletzungen gesenkt werden«, behauptet der Hersteller.

Die Zukunft

Welche Perspektive ist bei der Verbreitung von ABS-Systemen am Fahrrad zu erwarten? Am Fahrrad spielen zwei Faktoren eine deutlich größere Rolle als bei Auto und Motorrad: Gewicht und Preis. Bosch gibt an, dass das ABS etwa 800 Gramm wiegt, etwa in der gleichen Größenordnung liegen auch die Systeme der Wettbewerber. Damit hat jeder Hersteller, der Wert auf geringes Gewicht legt, einen Zielkonflikt. Jenseits von 20 kg mag das Zusatzgewicht weitgehend ignoriert werden können, wird jedoch Geld für Leichtbaukomponenten in die Hand genommen und dieser Effekt dann durch eine ebenfalls kostspielige zusätzliche Komponente wieder aufgehoben, darf man sich fragen, wie sinnvoll das ist.
Womit das vermeintliche Hauptproblem angesprochen ist: Die Hersteller von ABS-Lösungen gehen davon aus, dass pro E-Bike etwa 500 Euro Mehrpreis für das mehr an Sicherheit einzuplanen sind. Die Fahrradhersteller, die zum aktuellen Zeitpunkt bereits auf ABS setzen, haben meist höhere Kalkulationen angesetzt. Das ist angesichts der Innovation und des Umsetzungsaufwandes legitim, macht die Entscheidung für die Kunden aber nicht gerade leichter. Ein hochwertiges E-Bike etwa, das ohnehin bereits 3000 Euro kosten würde, wird allein durch die Bremsassistenz um ein Sechstel teurer. Das sind Preisrelationen, die weder am Auto noch am Motorrad so zu finden sind. Verständlich, dass die Fahrradhersteller noch entsprechend vorsichtig den Markt sondieren. Bei Bosch hat man zunächst das Premiumsegment im Visier: »Wir glauben, dass das E-Bike-ABS das Potenzial hat, bei hochwertigen Pedelecs Standard zu werden. Es ist davon auszugehen, dass sie serienmäßig und optional irgendwann auch in niedrigeren Preisklassen angeboten werden.« Davon ist der Markt gegenwärtig noch weit entfernt.
Kunden, die auf ihr Budget achten, stellen sich angesichts des Aufpreises vermutlich die Frage, ob sie nicht eigentlich viel zu gute Radfahrer sind, um ein ABS zu benötigen. Das größte Problem für ABS am Fahrrad dürfte derzeit sein, dass die meisten Kunden noch gar nicht in die Verlegenheit kommen, sich diese Frage zu stellen. Seit 2018 bemüht sich Bosch um eine Verbreitung des eigenen Bremssystems – die Erfolge sind bisher verhalten. Zwar verbauen derzeit sieben Hersteller das ABS von Bosch, wirklich große Stückzahlen kommen über diese aber noch nicht auf die Straße. Die Fahrradhersteller haben durch ihre zugegeben verständliche Zurückhaltung nicht allzu viel dazu beigetragen, die Sicherheit für Radfahrer dank ABS zu erhöhen. Es bleibt eine große Marketingaufgabe, potenzielle Kundschaft zu erreichen und dort bestehende Vorbehalte zu zerstreuen.
Am Preis für das Plus an Sicherheit wird sich auf absehbare Zeit nicht allzu viel ändern. All die bestehenden Vorbehalte und Zurückhaltung gilt es also auf anderen Wegen zu zerstreuen und zu überwinden. Die richtigen Zielgruppen anzusprechen und ihnen die Vorteile zu erklären, ist eine große Aufgabe und wird mehr Zeit in Anspruch nehmen als wünschenswert. Dieses Brett zu bohren, lohnt sich trotzdem. Wenn es gelingt, ABS am Fahrrad zu etablieren, wäre die zusätzliche Sicherheit ein weiteres dickes Plus pro Fahrrad.

6. April 2020 von Daniel Hrkac

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