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Porträt - My Boo

Wo die Fahrradrahmen wachsen

Dass die Fahrräder von My Boo aus Bambus sind, ist nur ein Aspekt, der das Unternehmen besonders macht. Die Zusammenarbeit mit dem ghanaischen Yonso Project zeigt, dass eine Partnerschaft auf Augenhöhe über Grenzen hinweg funktionieren kann.

Felix Habke blickt gemeinsam mit einem älteren Herrn auf ein Fahrrad. Mit viel innerer Ruhe beantwortet er alle Fragen, die ihm der Mann, offenbar ein Händler, auf der Fachmesse letztes Jahr stellt. Das Rad, neben dem die beiden stehen, ist aus Bambus. Genauer gesagt, handelt es sich um einen Prototyp für ein Lastenrad. Die Entwicklung ist schon weit vorangeschritten, auch wenn die Lenkung zu diesem Zeitpunkt nur eine Attrappe ist. Vielleicht soll das neue Modell die letzten Menschen verstummen lassen, die Bambus als Rahmenmaterial noch immer kurios finden. Vielleicht ist es einfach der nächste logische Schritt für My Boo.
Die Kieler Firma verkauft bereits seit acht Jahren Fahrräder und hat sich kleineren Stückzahlen zum Trotz gut auf dem Markt etabliert. Am Anfang der Firmengründung stand ein etwa zehn Jahre altes Foto. Darauf zu sehen ist ein Bambusfahrrad, das irgendwo in Ghana unterwegs ist.
Der Fotograf des Bildes schickt es damals an seinen Schulfreund Maximilian Schay. Der studiert zu dieser Zeit Betriebswirtschaftslehre an der Uni Kiel und zeigt das Bild seinem Kommilitonen Jonas Stolzke. Beide sind begeistert und sehen Bambusfahrräder als geeigneten Weg, durch ein Produkt Gutes zu tun. Sie beginnen eine Recherche, die im Kontakt zu einem Mann namens Kwabena Danso ihr Ziel findet. Ende 2012 gründen Schay und Stolzke eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Ein Jahr später entsteht die My Boo GmbH.

Der ghanaische Partner

Kwabena Danso lebt in der Ashanti-Region, genauer gesagt im kleinen Dorf Yonso, das etwa fünf Autostunden von der ghanaischen Haupt- und Hafenstadt Accra entfernt liegt. Dort leitet er ein soziales Projekt, mit dem er die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen will. »Das sollte zum einen durch Arbeitsplätze mit fairer Bezahlung, aber vorrangig durch die Investition in Bildungsprojekte geschehen«, erzählt Felix Habke, der bei My Boo für Marketing und Kommunikation zuständig ist. Das Yonso Project investierte in kleine Schulbibliotheken und Stipendien für Schulkinder, die in erster Linie spendenfinanziert waren. Die Spenden einzuwerben war nicht immer einfach, weshalb Danso nach einem Weg suchte, von Geldgebern unabhängig zu werden.
Als dann der Kontakt zu den interessierten Kielern entstand, sah Danso seine Möglichkeit. Erfahrungen mit Bambusrädern hatte er bereits in einem Projekt der Vereinten Nationen gesammelt. Dort ist auch das Fahrrad entstanden, das der Schulfreund von Maximilian Schay abgelichtet hatte. »In diesem UN-Projekt ging es darum, mit dem lokalen Bambus ein Fahrrad für den ghanaischen Markt zu bauen«, erklärt Felix Habke. Um mit der deutschen GmbH handeln zu können, ruft Danso die Booomers Limited ins Leben. Unter dieser Marke produzieren er und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht nur die Rahmen für My Boo, sondern auch Fahrräder für den ghanaischen Markt.

Das Team der Booomers erhitzt den Bambus (oben) und passt die Stangen in Rahmenlehren ein (unten).

Diese werden mit harzgetränkten Sisal-Seilen verbunden und abgeschliffen.

Eine Partnerschaft auf Augenhöhe

Der Startschuss der Zusammenarbeit war gefallen. My Boo bestellte auf einen Schlag den gesamten Lagerbestand der nun Booomers genannten Firma, die schon ein paar Jahre Bambusrahmen produzierte. Die ersten Räder bauen sie zusammen mit einem Fachhändler aus Schleswig-Holstein auf. Ganz so reibungslos funktionierte der Plan dann aber doch nicht. »Leider war keiner dieser Rahmen vernünftig nutzbar«, meint Habke »Teilweise bekamen wir kein Hinterrad in den Hinterbau, aber für Testzwecke und ein erstes Gefühl reichte es.« Zusammen mit deutschen Ingenieuren konstruierte My Boo Werkzeuge und baute mit den Booomers eine neue Produktion auf.
Die Themenschwerpunkte sind zwischen den Teams aus Ghana und Deutschland klar verteilt. »Es ist eine Partnerschaft auf Augenhöhe«, betont Habke. Entscheidungen, die die Bildungsprojekte vor Ort betreffen, liegen ganz klar bei dem Partner in Ghana. Dem Vorwurf, Kolonialismus fortzuführen, müsse man sich trotzdem hin und wieder stellen. Felix Habke schweigt kurz. »Natürlich ist es so, dass Bedarfe, die zum Beispiel die Schule betreffen, nur von den Zuständigen vor Ort eingeschätzt werden können. Deshalb halten wir uns da selbstverständlich raus und werden nur unterstützend tätig. Auf der anderen Seite stellen wir aber auch Ansprüche, was zum Beispiel die Qualität unserer Rahmen angeht, und stehen mit der Produktion eng im Austausch.«
Es gab mal eine zweijährige Phase, in der niemand von My Boo nach Ghana gefahren ist. Es solle nicht der Eindruck entstehen, dass man vor Ort kontrollieren wolle, meint Habke.
Weder My Boo noch Kwabena Danso haben das Bambusfahrrad erfunden. Auch Craig Calfee, Unterstützer des UN-Projekts und laut Habke »der Urvater der modernen Bambusfahrräder«, kann die Erfindung nicht für sich beanspruchen. Tatsächlich stammt das erste Bambusrad aus Österreich und wurde noch im 19. Jahrhundert gebaut. Es steht heute in einem Museum in Prag.

80 Stunden Handarbeit

Ab April 2014 wird die erste Charge Fahrräder unter der Marke My Boo vertrieben. Den Produktionsprozess der Rahmen haben die Booomers stetig weiterentwickelt. Sie schlagen den wild gewachsenen Bambus von Hand in einem Bambuswald, der ohne Bewässerung auskommt. Die Wurzel lassen sie unbeschädigt, sodass die Stangen nachwachsen können. Um die für ein Oberrohr nötigen Dimensionen zu erreichen, braucht die Pflanze etwa drei bis vier Jahre. In dieser Zeit wachsen die Rohre auf bis zu 30 Meter an. Dass den Booomers irgendwann der Rohstoff ausgeht, ist laut Habke nicht zu befürchten. »Ich glaube, diesen Punkt wird es nicht geben«, sagt er. Das Booomers-Team sägt die Stangen in den passenden Längen zurecht. Danach erwärmt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin die Rohre in einer Art Ofen. Das wandelt die Glukose in den Rohren um und macht den Bambus belastbarer und weniger anfällig für Schädlinge. Durch die anschließende Trocknung wird der Bambus widerstandsfähig und fest. Nach dem Trocknen werden die Rohre von innen mit einem Schädlingsbekämpfungsmittel behandelt. Das schützt den Bambus auch vor Schimmel. Für die richtige Geometrie im Aufbau sorgen Rahmenlehren. Auf diesen baut ein Mitarbeiter um die Ausfallenden, das Tretlager sowie Steuerrohr und Sattelhülse den Rahmen auf. Die Rohre werden eingepasst, ein Harz fixiert sie am richtigen Ort. Um den Rahmen zu stabilisieren, umwickelt eine Arbeitskraft die Verbindungen mit Sisal-Seilen. Diese sind mit Epoxidharz aus recycelten Industrieabfällen getränkt. Einmal getrocknet, ist die Rahmenform fest. Die Verbindungen werden abgeschliffen und poliert. »Die Schleifarbeit ist eigentlich das Anspruchsvollste«, sagt Felix Habke. Wenn beim abschließenden Qualitätscheck alle Punkte abgehakt sind, folgt noch der letzte Arbeitsschritt. Ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin lackiert den Rahmen. Bis ein Bambusrahmen in Ghana den Weg in den plastikfreien Karton gefunden hat und auf die Verschiffung wartet, vergehen rund 80 Arbeitsstunden.
Gegenüber dem Seeweg aus Taiwan spare der Transport aus Accra etwa zehn Seetage, so Habke. In Deutschland angekommen prüft die Efbe Prüftechnik GmbH die Rahmen nach der EN-Norm. Anschließend landen sie in der Manufaktur, wo jeweils ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin alle Komponenten des Rahmens montiert. Auch hier achtet das Unternehmen auf Nachhaltigkeit, zum Beispiel beim Stromlieferanten, den Arbeitsmitteln oder der Auswahl der Druckerei.

Konkurrenzfähiges Sortiment

Mittlerweile bietet My Boo 17 verschiedene Modelle an. Bei sieben davon unterstützt ein Elektromotor das Pedalieren. Die Rahmen wiegen im Durchschnitt ungefähr drei Kilogramm. Voll ausgestattet erreichen die Kieler ein Gewicht von 14 bis 15 Kilogramm für Reiseräder ohne Motor und 24 bis 25 Kilogramm Gewicht für vollausgestattete Pedelecs. Vom Rohstoff ist My Boo auch in dieser Hinsicht überzeugt. »Für uns ist Bambus ein normaler, optimaler Rohstoff für einen Fahrradrahmen«, erzählt Habke. Bambus kann eine ähnliche Zugfestigkeit wie Stahl erreichen. Außerdem bietet das Rad eine natürliche Dämpfung, ähnlich der von Carbon. »Wenn es mal umfällt, muss es nicht geröntgt werden und nach irgendwelchen Haarrissen gesucht werden«, stichelt Habke. »Stabil wie Stahl, leicht wie Alu und komfortabel wie Carbon«, so fasst das Kieler Unternehmen die Qualitäten von Bambus auf der Firmenwebsite zusammen.
My Boo vertreibt jährlich eine kleine vierstellige Stückzahl in Fachhandel und Direktvertrieb. Verschiedene Tourismus-Akteure haben die Räder ebenfalls für ihre Zwecke entdeckt. »Es gibt ganz viele Fahrradverleiher, touristische Regionen und Hotels, die unsere Fahrräder nutzen. Und es gibt auch noch einen großen Kreuzfahrtanbieter, die bei Landgängen Touren mit unseren Fahrrädern anbieten«, berichtet Habke.

Erfolge in mehrfacher Hinsicht

Der wirtschaftliche Erfolg von My Boo lässt sich nicht von der Hand weisen. Ende 2021 haben das Magazin Fokus und das Datenportal Statista die My Boo GmbH als einen von 500 Wachstums-Champions prämiert. Auch der Unternehmenszweck des sozialen Engagements floriert. Mit dem Bike-to-School-Programm der Unicef konnte My Boo vor einigen Jahren 250 Fahrräder an Kinder in der Ashanti-Region verschenken. Die Mehrwertsteuersenkung im Zuge der Covid-19-Pandemie gab das Unternehmen als Spende für das Yonso Project weiter. In Yonso wurde 2019 eine zum größten Teil aus den Verkäufen der Bambusräder finanzierte Schule eröffnet. Inzwischen gehen dort fast 400 Kinder aus der Region zur Schule. Über den Verein My Boo Ghana School e. V., der Stipendien vergibt, würde Habke am liebsten die ganze Branche einbeziehen. »Wenn wir irgendwo für ein paar Hunderttausend Euro einkaufen, freuen wir uns auch, wenn davon ein paar Prozent an den Verein gespendet werden können.«

»Für uns ist Bambus ein normaler, optimaler Rohstoff für einen Fahrradrahmen«

Felix Habke, My Boo

Zur GmbH gehören inzwischen rund 80 Personen. Davon arbeiten einige auch in den fünf Küstenrad-Fachgeschäften, ein zweiter Geschäftsbereich unter dem Unternehmensdach von My Boo. In Ghana sind rund 35 Menschen bei der Booomers Limited und weitere 60 in der Schule angestellt. Alle drei bis vier Monate ist inzwischen eine kleine Delegation von My Boo in Yonso. So wolle man der Verantwortung gerecht werden. Der digitale Austausch zwischen den Akteuren beider Länder findet fast täglich statt. »Es ist eine emotional engere Bindung zwischen Ghana und Deutschland. Es hört sich hart an, aber ich denke, dass das Yonso Project ohne die My Boo GmbH nicht mehr existieren würde«, sagt Habke.
Der Weg zu wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Erfolg war für My Boo nicht immer einfach. »Natürlich waren wir erst mal die Exoten«, erinnert sich Felix Habke an die Anfänge des Unternehmens. »Der Fachhandel kannte teilweise schon Bambusfahrräder, war aber nicht so richtig davon überzeugt. Die Personen, die das vor uns gemacht haben, waren nicht so richtig zuverlässig. Wir hatten also einen schweren Start.« Mittlerweile ist My Boo als seriös geführtes Unternehmen etabliert. Die Gründer werden auch zu Veranstaltungen wie dem Bike Brainpool eingeladen. Das freut die Firma auch deshalb, weil das Produkt ein Stück weit Mittel zum Zweck ist. »Wir haben das Unternehmen von hinten aufgezäumt. Bei uns stand das Engagement im Vordergrund und wir haben darauf das Produkt weiterentwickelt«, erzählt Habke.

Vielfach ausgezeichnet

Als engagiertes Social Business hat sich My Boo längst bewiesen. Dafür sprechen die zahlreichen Preise, die das Unternehmen gewonnen hat. Darunter sind das Siegel »Projekt Nachhaltigkeit« vom Rat für Nachhaltige Entwicklung, der »Lammsbräu Nachhaltigkeitspreis« und der »Deutsche Award für Nachhaltigkeitsprojekte«. Nun stellt sich die Frage, wie die Reise in Zukunft weitergehen wird. Doch die Pipeline ist gut gefüllt. Sogar ein vollgefedertes Mountainbike sei denkbar, meint Habke.
Die Lenkung des Lastenrads funktioniert inzwischen. Seit der Messe im Sommer letzten Jahres ist das neue Modell in Kiel getestet worden. In Ghana wurde an den Produktionsabläufen des neuen Modells gefeilt. Ausliefern möchte My Boo die Lastenräder ab dem Herbst.

10. Februar 2022 von Sebastian Gengenbach

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