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Bico-Geschäftsführer Jörg Müsse:

"Das gegenwärtige Momentum nutzen, um Radfahren noch populärer zu machen"

Zwar keinen Grund zur Euphorie, aber durchaus Anlass für Optimismus sieht Jörg Müsse im Interview mit velobiz.de beim Blick auf die Zukunft des Fahrradmarktes. Um die Erfolge in diesem Jahr zu verfestigen, fordert der Geschäftsführer des Händlerverbands Bico aber, dass die Marktteilnehmer die Früchte ihres wirtschaftlichen Erfolgs nutzen sollten, um die "offensichtlich offene Tür" in der Radverkehrspolitik zu durchschreiten. Dabei sieht er auch den eigenen Verband und dessen Mitglieder in der Verantwortung. Vor dem Hintergrund des Corona-Jahres sind aber auch andere Themen im Verband stärker in den Vordergrund gerückt.

Das Ifo-Institut hat kürzlich berichtet, die Fahrradbranche sei der Gewinner der Corona-Krise. Gleichzeitig sind viele Händler mit dieser Achterbahn in diesem Jahr als Mensch mental und konditionell am Anschlag. Wie ist Ihre Beobachtung? Sind wir als Fahrradmarkt ein Gewinner der Krise oder ist das etwas differenzierter zu sehen?

Jörg Müsse: Natürlich ist der wirtschaftliche Erfolg im Moment in der Branche insgesamt, aber insbesondere auch im Handel nicht wegzudiskutieren. Ich bin aber vorsichtig, uns schon als Gewinner der Krise zu beschreiben. Das werden wir erst in ein, zwei Jahren tatsächlich sehen. Und es ist ja nicht so, dass das Produkt Fahrrad erst durch die Krise auf einmal im Fokus stand. Die Achterbahnfahrt für die Händler war zwar extremer als üblich, aber die Händler fahren jedes Jahr Achterbahn. Kritisch für die Händler war weniger, dass die Nachfrage auf einmal explodiert ist, sondern vielmehr die emotionale Existenzangst als es zum Lockdown kam. Glücklicherweise konnte diese Schocksituation schnell beendet werden - vielleicht auch durch die gemeinsame Lobbyarbeit der Branchenverbände. Irgendwann sind aber die Händler körperlich am Anschlag, vor allem auch im Verhältnis zu ihren Kunden. Es ist für die Fahrradhändler eine anstrengende Situation, eine vorhandene Nachfrage nicht wirklich bedienen zu können. Aber die allermeisten Fahrradhändler sind gut durch das Jahr gekommen und nutzen jetzt jede Gelegenheit, auch mal Luft zu holen.

Der Fahrradmarkt war vor 2020 ohnehin schon auf einem hohen Niveau. Jetzt ist nochmal eine Schippe draufgelegt worden. Glauben Sie, dass wir diesen Erfolg in den nächsten Jahren verstetigen können? Und wenn ja: Was muss dafür geschehen?

Jörg Müsse: Wie groß der Erfolg in diesem Jahr wirklich sein wird, das werden wir erst am Jahresende sehen. Denn es kann ja auch durchaus sein, dass Fahrradkäufe vorgezogen wurden oder dass die Nachfrage vor dem Hintergrund von Existenzängsten bei manchem Arbeitnehmer noch einbrechen könnte. Das erwarte ich aber eigentlich nicht. Ich möchte nur sagen: Am Ende des Jahres wird zusammengerechnet, nicht jetzt. Wir als Verband stellen uns die Frage: Wie ist der nachhaltige Anteil dieser Umsatzentwicklung, der auch tatsächlich in den nächsten Jahren noch Fortbestand haben wird? Diese Frage stellen wir uns schon sehr lange und auch sehr kritisch. Die Bilanz für unsere Branche kann durchaus noch negativ ausfallen. Irgendwann wird jeder wieder in Urlaub fahren können, irgendwann wird auch wieder die Angst vorbei sein, in der U-Bahn zu fahren. Gleichzeitig können auch die Dinge, die negativ wirken, noch länger andauern, wie eine anhaltende Rezession mit einem Verlust von Arbeitsplätzen. Aber ganz wichtig ist, und das können diejenigen, die schon lange in der Branche sind, alle bestätigen: Das Fahrrad ist regelmäßig ein Gewinner in der Krise. Nicht zuletzt auch, weil es andere Dinge, die man sich möglicherweise nicht mehr leisten kann, kompensiert. Also beispielsweise Urlaub in Deutschland statt Fernreise. Und was ist dann auf dem Heckträger des Autos? Natürlich Fahrräder. Oder wer das Jahresabo für den ÖPNV sparen will, kommt vielleicht auf die Idee, per Dienstrad-Leasing aufs Fahrrad umzusteigen. Und da kommt jetzt eigentlich auch die Antwort auf die Frage, was verstetigt die Umsatzzahlen? Der Absatz wird sich nicht unbedingt deutlich steigern lassen, also wird mehr Umsatz nur durch eine Erhöhung der Durchschnittspreise gelingen. Das heißt durch immer mehr Anteil der E-Bikes. Und das wird wohl auch bedeuten, durch immer weiter getriebene Innovationen. Da ist die Branche gut drin, da kommen wir mit Sicherheit weiter. Aber wirklich nachhaltig wird diese Entwicklung nur sein, wenn die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht. Meiner Ansicht nach liegt das größte, unerschlossene Wachstumspotenzial für das Fahrrad im urbanen Raum. Wenn der Kuchen wirklich größer werden soll, also wenn wir von vier Millionen auf 4,5 Millionen oder fünf Millionen abgesetzte Fahrräder kommen wollen, dann wird das nur durch Wachstum in den urbanen Räumen geschehen können. Und da benötigen wir dann auch eine Infrastruktur, die den Radverkehr bei der Raumverteilung favorisiert.

Das ist ein Thema, das die Unternehmen im Fahrradsegment bislang eher als Nebenschauplatz behandelt haben. Müssen Industrie und Handel, also eigentlich alle Marktteilnehmer, das Thema Radverkehr noch weiter oben auf die Agenda setzen? Was kann die Branche überhaupt dazu beitragen, dass Fahrradinfrastruktur entsteht?

Jörg Müsse: Also ich bin schon der Meinung, dass die Fahrrad-Community – ich benutze den Begriff ganz bewusst - das gegenwärtige Momentum nutzen sollte, um das Thema Radfahren noch populärer zu machen. Wir haben gerade eine sehr große Offenheit in der Gesellschaft dem Radverkehr gegenüber. Und wir haben im Moment eine sehr, sehr komfortable wirtschaftliche Situation in der Fahrradwirtschaft. Und da sollte man vielleicht auch die eine oder andere Ressource dafür nutzen, diese offensichtlich offene Tür zu durchschreiten. Klar, es gibt eine Aufgabenteilung bei der Radverkehrsplanung, bei der die Fahrradwirtschaft nicht in der ersten Reihe steht. Klar ist aber auch, dass man die Politik auf allen Ebenen, von der Kommunalpolitik bis zur Bundespolitik, durchaus auch durch Expertise aus der Fahrradwirtschaft in ihren Bestrebungen besser unterstützen könnte. Und das sollten wir versuchen, zu organisieren. Und wir sollten uns als Branche wieder gemeinsam hinter eine Leitmesse stellen. Ich würde mir wünschen, dass sich die relevanten Entscheider im Markt zusammensetzen, ihre Erwartungen offen darlegen und dass man auf dieser Basis versuchen sollte, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Es sollte eigentlich möglich sein, dass das dann konsequent zu einer anderen Lösung als der jetzigen führt.

Der Branchenvertreter vor Ort ist der Fahrradhändler. Wäre es auch für Ihren Verband eine Aufgabe, die Händler bei der lokalen Lobby-Arbeit mehr zu unterstützen?

Jörg Müsse: Das ist zumindest ein Projekt, das wir uns auf die Agenda geschrieben haben. Grundsätzlich lautet die Politik der Bico, den Fahrradhändler in seinem Geschäftsmodell im lokalen Markt zu unterstützen, also nicht in irgendeiner Weise etwas vorzugeben, sondern nur die Werkzeuge zu liefern, damit der Händler vor Ort seinen Job effizienter erledigen kann. Dazu könnte in diesem Fall auch gehören, beispielsweise auf Bundesebene mit dem ADFC verschiedene Tools vorzubereiten, sodass der lokale Händler dann sozusagen in die Schublade greifen kann, um vor Ort für das Thema Fahrrad etwas zu bewegen.

Welche Lehren hat denn die Bico als Händlerverband aus diesem Jahr gezogen?

Jörg Müsse: Was wir sehr schnell gelernt haben, ist, wie wichtig die Kommunikation geworden ist. Wir haben sehr früh damit angefangen, tägliche Informationen für unsere Mitglieder aufzubauen, so dass unsere Händler immer auf dem Laufenden geblieben sind. Wir haben auf dem Höhepunkt der Coronakrise eine ganze Menge Personal investiert, um Information aufzusaugen. Als Verband in dieser Form da zu sein für seine Händler, das war sehr wichtig, weil natürlich jeder Einzelhändler in seiner individuellen Situation auch ein Stück weit verunsichert war. Die zweite Lehre lautet: Wir müssen als Verband das Geschäftsmodell unserer Händler wirklich genau verstehen. Wir müssen sofort erkennen können: Was sind die Probleme der Verbandsmitglieder? Und das war natürlich in der Krise in erster Linie die Liquidität. Dazu hatte die Bico in Zusammenarbeit mit der DZB (Zentralregulierungsbank von Bico-Partner ANWR, Anm.d.Red.) den Händlern ohne große Anträge oder dergleichen die Möglichkeit gegeben, ihre Liquidität erstmal für 60 bis 90 Tage zu sichern. Das linderte deutlich die Existenzangst und gab die Möglichkeit, mit dem Rücken von der Wand weg zu kommen und in Ruhe zu analysieren und Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Die Kernaussage ist: Der Verband muss in so einer Situation in Führung gehen, muss da sein für seine Händler, aber auch für seine Lieferanten - zum Beispiel, indem Zahlungen zu 100 Prozent garantiert sind. Und das ist uns nicht schlecht gelungen und wir freuen uns immer wieder über die oft sehr emotionalen Rückmeldungen unserer Mitglieder.

Wir führen unser Interview auf den Bico-Ordertagen in Mainhausen, wo Ihr Verband einige ehrgeizige Projekte im digitalen Bereich vorstellt. Haben auch diese Vorhaben durch die Corona-Krise an Dringlichkeit gewonnen?

Jörg Müsse: Ja, und das ist vielleicht auch noch ein Punkt zu dem Thema „was lernen wir aus der Krise?“. Was wir aus der Krise lernen, ist, dass der stationäre Händler vor Ort sehr wohl vom Verbraucher weiter gefragt ist, dass man aber den Zugang zum Kunden weiter aufmachen muss. Und das geht heute vor allem auch über digitale Werkzeuge. Wir wollen unsere Händler mit dem neuen Marktplatz bikes.de besser dazu befähigen, die Kunden online abzuholen und in den lokalen Handel zu bringen. Das ist die Zukunft.

Sie haben in unserem Vorgespräch gesagt, dass Sie den persönlichen Austausch mit den Händlern als eine Ihrer wichtigsten Aufgaben sehen. Was antworten Sie, wenn Händler Sie fragen: Jörg, worauf müssen wir uns nächstes Jahr einstellen?

Jörg Müsse: Diese Frage wird in der Bico tatsächlich auf allen Ebenen sehr intensiv diskutiert. Ich glaube, dass wir mindestens auf gleichem Niveau wie dieses Jahr arbeiten werden. Möglicherweise ist das aber lokal sehr unterschiedlich. Als Händler würde ich deshalb darauf achten, wie sich das Thema Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit im regionalen Umfeld entwickelt. Wenn ich als Händler in einer ländlichen Struktur ansässig bin, mit einem dominanten Arbeitgeber, der auf einmal in Probleme gerät, dann wird sich das natürlich negativ auf meine Situation auswirken. Bin ich in einer Großstadt, habe ich wiederum vielleicht noch nicht so sehr von der Entwicklung profitiert wie der Rest des Handels. Das liegt daran, dass in den Großstädten das Thema E-Bike noch nicht so relevant ist. Deswegen also Anlass zum Pessimismus? Haben wir nun wirklich nicht. Anlass zu Euphorie? Da wäre ich auch vorsichtig. Aber ich sag mal, ein gesunder Optimismus ist angebracht.

8. September 2020 von Markus Fritsch

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