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Technik - Reichweitentests

So nah und doch so fern

Wie wichtig sind Reichweitenangaben eigentlich noch? Nach wie vor kämpft die Branche damit, einen Standard zu etablieren, mit dem sich verschiedene Räder sinnvoll miteinander vergleichen lassen. Das ist gar nicht mal so einfach.

Seit Jahr und Tag lautet eine der Standardfragen im Fahrradladen: »Wie weit komme ich damit?« Seit jeher lautet die Antwort darauf: »Kommt darauf an.« Jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, weiß, wie schwer eine aussagekräftige, verbindliche Antwort ist. Aus diesem Grund gibt es seit inzwischen vielen Jahren umfassende Versuche, eine eigene Norm zu etablieren, mit der sich eine praktikable Antwort geben lässt. Bislang stehen einige Reichweitennormierungen zur Wahl, von denen sich bisher aber noch keine durchgesetzt hat. Entsprechend sind sie den weitesten Teilen der Kundschaft immer noch unbekannt.
Mancher wird neidvoll zur Automobilwelt hinüberblicken. Dort gibt es den WLTP-Standard, der 2017 eingeführt wurde und heute die Standardangabe ist, wenn es um Reichweitenangaben geht. Wer heute eine WLTP-Angabe bei seinem neuen Elek­troauto hört, zieht je nach Modell etwas von der Kilometerzahl ab und weiß dann halbwegs zuverlässig, wie weit man bei normaler Fahrweise kommt, bevor das Auto wieder ans Netz muss. WLTP steht für »Worldwide Harmonized Light-Duty Vehicles Test Procedure« und ersetzt die davor genutzten NEFZ-Angaben. Diese litten an den gleichen Problemen wie Reichweitenangaben am E-Bike: Die Angaben waren oft sehr ungenau (aber eigentlich nur in eine Richtung), weil ihre Prüfbedingungen nicht sehr realistisch waren und Hersteller nun mal keinerlei Interesse haben, sich das Leben unnötig schwer zu machen.
Ähnlich ist die Situation seit jeher auch in der Fahrradwelt. Reichweitenangaben sind seit langer Zeit nur vage Orientierungspunkte, eine Vergleichbarkeit von verschiedenen Modellen oder gar E-Kategorien ist bisher kaum gegeben. Verschiedene Projekte sind angetreten, um durch vergleichbare und aussagekräftige Daten letztlich das Ziel höherer Markttransparenz zu erreichen.
Wo das Problem liegt, zeigt am eindrücklichsten bisher der Reichweitenrechner von Bosch. Bei diesem Reichweiten-Assistenten lassen sich gleich dreizehn verschiedene Kriterien einstellen, die allesamt mehr oder weniger großen Einfluss auf die mit einer Akkuladung erreichbaren Kilo- und Höhenmeter haben. Ein Systemgewicht von 75 kg, was einer leichten Person samt E-Bike und Gepäck entspricht, führt in den Standardeinstellungen zu 88 km Reichweite. Bei 125 kg Gesamtgewicht, was keine spektakulär hohe Zahl ist, sinkt sie auf 67 km, also fast um ein Viertel. Wird die Strecke im Turbomodus gefahren, sinkt die Zahl weiter auf 51 km. Geht es dann noch ins Mittelgebirge, bleiben noch 36 km übrig. Auch noch stürmischer Wind im Gesicht und unbefestigte Wege unter den Reifen? Dann reicht die Energie des Standardakkus nur noch für 26 km, kaum mehr als ein Viertel der Distanz, die jemand Leichteres unter weniger widrigen Umständen erzielt.
Das mögen die beiden Enden des Spektrums sein, es reichen aber bereits die Unterschiede bei den Körpergewichten, um zu verdeutlichen, dass man bisher nicht einfach eine Kilometerzahl auf das Spezifikationenblatt schreiben konnte.

Reichweitentests rücken immer mehr ins Rampenlicht

Der bislang erfolgreichste und folgenreichste Reichweitentest, um diese Komplexität zu vereinfachen, wurde unter der Federführung des ZIV initiiert. Der R200 genannte Test ist nicht bloß ein weiterer Versuch, Licht in das Halbdunkel der unverbindlichen Herstellerangaben zu bringen, sondern eine DIN-Spezifikation (DIN/TS-31064). Als solche steht sie eine Stufe unter einer Norm, schreibt aber dennoch einen bestehenden Stand der Technik fest. Da die Spezifikation seit letztem Sommer gilt, könnten eigentlich alle Hersteller, die mit Reichweitenangaben arbeiten, diese Zahlen nach dem R200-Reichweitentest ermittelt haben. Heraus kommt dann eine Kilometerzahl, die einen praxisnahen Reichweitenwert darstellen soll.
Tim Salatzki, der neue Leiter Technik und Normung beim ZIV, beobachtet, dass die Industrie den neuen Reichweitentest gut annimmt: »Wir sehen schon, dass das Interesse deutlich größer ist, diese Spezifikation durchzuführen.« Gleichzeitig bestehe keine Pflicht, Reichweitenangaben auf diese Weise zu belegen. Wenn sich ein Hersteller aber zu weit aus dem Fenster lehnt, könnte er für allzu optimistische Aussagen Probleme rechtlicher Art bekommen. Wäre etwa ein Kunde unzufrieden mit der Praxisreichweite und die Herstellerangaben wichen zu sehr vom normierten Test ab, könnte das etwa vor Gericht zu einer verpflichtenden Wandlung führen.

Der Reichweiten-Assistent von Bosch erlaubt sehr individuelle Einstellungen. In der alltäglichen Praxis wünschen sich viele eine direkte Vergleichbarkeit von verschiedenen Fahrradmodellen.

Trotzdem sieht nicht jeder Marktteilnehmer das Problem sinnvoller Reichweitenangaben als gelöst. Der R200 ist vor allem auf das Fahren in der Ebene ausgelegt. E-Mountainbike-Hersteller wie Rotwild-Macher ADP Engineering sehen dies als Makel, den es zu beheben gilt. Ihnen sind die Daten immer noch zu ungenau und unübersichtlich, weswegen kürzlich zusammen mit der Hochschule Darmstadt ein Forschungsprojekt vorgestellt wurde.
Auch der ZIV arbeitet bereits an diesem Problem. Nächstes Jahr erblickt voraussichtlich der RH300-Reichweitentest das Licht der Welt. Dieser misst auch erreichbare Höhenmeter und zielt somit auf die Anwendung bei Mountainbikes.
Bis der Markt so weit ist, die Frage nach der Reichweite für alle befriedigend zu beantworten, könnte es also noch eine Weile dauern. Bis dahin lautet die Antwort auf alle Fragen zum Thema Reichweite: »Kommt darauf an.« //

2. Juni 2022 von Daniel Hrkac

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